Gerade im Sommer ist die Vorfreude auf die nächsten Ferien bei vielen gross. Die einen können gar nicht oft genug verreisen – andere hingegen fürchten sich davor, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Sie haben Angst vor dem Reisen – auch als Hodophobie bekannt. Was es damit auf sich hat, verrät Psychologin Dr. Hanne Horvath von der Online-Therapieplattform HelloBetter im Interview.
Was genau versteht man unter Hodophobie?
Dr. Hanne Horvath: Reiseangst, auch Hodophobie genannt, beschreibt eine intensive und meist anhaltende Angst, die bei dem Gedanken ans Reisen oder beim Reisen selbst auftreten kann. Sie gehört zu den spezifischen Phobien, also Ängsten vor ganz speziellen Situationen wie dem Reisen, vor einem spezifischen Ereignis oder vor einem bestimmten Reiz wie einem Ort oder einem Tier.
Viele Menschen freuen sich jedes Jahr auf ihre Ferienzeit. Wie kommt die Angst vor der Reise zustande?
Die Gründe können vielfältig sein. Hinter der klassischen Reiseangst steht oft die Angst vor der Vorstellung, das sichere Zuhause und die gewohnte Umgebung zu verlassen. Grund dafür ist meist die Angst vor Veränderung, die eine natürliche Reaktion auf neue Situationen darstellt. Denn wir alle haben ein evolutionär betrachtet durchaus sinnvolles Bedürfnis nach Sicherheit. Das war schon früher so: Erkundeten wir unbekanntes Terrain, mussten wir uns anpassen, um zu überleben. Das hiess: Neue Kontakte knüpfen, Nahrung beschaffen und einen sicheren Ort zum Schlafen finden.
Unbekanntes bedeutet also auch Stress. Ob und wie stark wir unter Reiseangst leiden, hängt dabei auch davon ab, welche Art von Stress wir empfinden. Das liegt nicht zuletzt daran, wie wir neue Situationen bewerten: Sehen wir eine Reise als Chance, etwas Neues zu lernen oder zu erkunden? Dann befinden wir uns im positiven Stress, der sich aufregend anfühlt und uns Kraft und Energie schenkt. Fühlen wir uns durch das Unbekannte bedroht, erleben wir hingegen belastenden, oft chronischen Stress. Auch dieser wirkt erregend, fühlt sich aber bedrohlich an und ist mit Angst verbunden.
Was sind die häufigsten Ursachen für Hodophobie?
Die Reiseangst kann verschiedene Erscheinungsformen haben, da sie oft mit anderen Ängsten verbunden ist, die nicht direkt mit dem Reisen zusammenhängen. Einige Menschen fühlen sich unwohl beim Gedanken, sich in anderen Ländern nicht verständigen zu können, während andere Angst vor Ablehnung haben und befürchten, sich peinlich zu verhalten. Solche Gefühle können auf eine soziale Phobie hinweisen. Eine weitere Sorge besteht darin, sich in einem fremden Land mit unbekannten Keimen oder Viren anzustecken. Wenn diese Angst vor einer Infektion im Alltag immer präsent ist, kann sie sich auch auf deine Reise auswirken. Für andere stellt der Gedanke an Menschenmengen, belebte Orte und Sehenswürdigkeiten eine grosse Belastung dar. In diesem Fall könnte eine Agoraphobie hinter der Reiseangst stecken.
Es gibt auch Menschen, die Angst vor ihrer eigenen Angst haben, und zum Beispiel die Befürchtung haben, in den Ferien eine Panikattacke zu erleben und nicht schnell genug Hilfe zu erhalten. Personen mit einer solchen Panikstörung mit Agoraphobie suchen oft schon vor Reiseantritt nach Krankenhäusern oder Arztpraxen in der Nähe. Schliesslich haben viele Menschen mit der Flugangst zu kämpfen, da das Fliegen oft mit dem Reisen verbunden ist. Laut einer US-amerikanischen Studie liegt die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens Flugangst zu entwickeln, bei fast drei Prozent. Es handelt sich damit um die dritthäufigste Phobie.
Wie äussert sich Hodophobie?
Angst und Sorgen sind Teil des Lebens. Sie können uns vorübergehend lähmen und daran hindern, weiterzumachen. Doch eines zeichnet «gesunde» Angst aus: Sie vergeht! Meistens können wir sie alleine gut bewältigen und nach einer besorgniserregenden Phase zur Normalität zurückkehren. Unser Unterbewusstsein entscheidet in Sekundenschnelle, was als Bedrohung wahrgenommen wird oder nicht. Bei einer Angstreaktion werden sofort verschiedene automatische Prozesse ausgelöst. Der Körper schüttet Adrenalin aus, das Herz schlägt schneller und unsere Muskeln spannen sich an. Typische Symptome einer Angstreaktion sind Schwitzen, Zittern, erhöhter Blutdruck und schwache Knie.
Erst im zweiten Schritt kommt der bewusste und bewertende Teil unseres Gehirns ins Spiel. Wir können darüber nachdenken, ob es sich um einen Fehlalarm handelt. Wenn ja, entspannt sich unser Körper wieder. Bei krankhafter Angst ist dieser Mechanismus jedoch gestört. Betroffene erleben oft regelrechte Angstanfälle, begleitet von Erstickungsgefühlen, Herzrasen und intensiver Anspannung. Das Gefühl, die Angst überwinden zu können, scheint in weiter Ferne zu liegen. Bei Menschen, die unter Reiseangst leiden, kann dies zum Beispiel geschehen, wenn sie eine Reise antreten, die sie aus geschäftlichen Gründen nicht umgehen können, oder wenn sie zum ersten Mal in einer unbekannten Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Weg zum Hotel finden müssen.
Wie erkennt man, dass man unter Hodophobie leidet?
Die Anzeichen und Ausprägungen von Reiseangst können von Person zu Person stark variieren. Mögliche Symptome umfassen ausgeprägte Unruhe und Nervosität vor oder während einer Reise. Dabei können sie körperliche Symptome wie beschleunigten Herzschlag, vermehrtes Schwitzen, Magen-Darm-Beschwerden oder Zittern erleben. Es können auch Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Muskelverspannungen oder Schlafstörungen auftreten. Darüber hinaus tendieren Menschen mit Reiseangst dazu, Reisesituationen zu meiden oder ihnen auszuweichen. Sie suchen nach Ausreden, um Reisen abzusagen oder vermeiden bestimmte Reiseziele, Transportmittel oder Situationen, die sie als bedrohlich oder unsicher empfinden.
Ein eindeutiges Anzeichen für Reiseangst können Panikattacken sein, begleitet von intensiver Angst, erhöhtem Herzschlag, Atemnot, Schwindelgefühlen oder dem Gefühl des Kontrollverlusts. Diese Panikattacken können sowohl im Hinblick auf bevorstehende Reisen als auch während der Reise selbst auftreten. Menschen mit Reiseangst neigen auch dazu, übermässig besorgte und negative Gedanken im Zusammenhang mit Reisen zu haben. Sie stellen sich mögliche Katastrophenszenarien vor und haben Angst vor Unfällen, Krankheiten oder anderen unvorhergesehenen Ereignissen während der Reise.
Wie behandelt man die Angst vor dem Reisen?
Wir alle haben eine Komfortzone, in der wir uns wohlfühlen. Das ist der Bereich, in dem wir vertraute Routinen haben und vor Herausforderungen geschützt sind. Wenn wir jedoch aus unserer Komfortzone ausbrechen, betreten wir neue und unbekannte Gebiete. Das kann anfangs unangenehm sein, aber es ermöglicht uns, zu wachsen und neue Erfahrungen zu machen. Beim Reisen können wir unsere Komfortzone bewusst in vier Schritten erweitern. Zuerst müssen wir unsere Reiseangst konkret benennen und verstehen, wovor wir uns fürchten. Ist es das Fliegen, Raubüberfälle, exotische Tiere oder die ungewohnte Umgebung im Allgemeinen? Sobald wir unsere Angst besser kennen, können wir uns gezielt darauf vorbereiten. Es kann hilfreich sein, Sicherheitsmassnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel einen Fensterplatz im Flugzeug zu wählen oder unser eigenes Kissen mitzunehmen. Eine gründliche Recherche über das Reiseziel kann ebenfalls Sicherheit geben. Diese Massnahmen geben uns Kontrolle und stärken unser Selbstbewusstsein, sodass wir uns schneller in der neuen Umgebung wohlfühlen. Um die Reiseangst zu überwinden, sollten wir uns ausserdem kleine Ziele setzen, um uns nicht zu überfordern. Es geht darum, die Komfortzone zu erweitern, nicht komplett zu verlassen.
Wenn die Reiseangst mit Flugangst verbunden ist, ist es ratsam, zunächst ein nahegelegenes Reiseziel mit kurzer Flugdauer zu wählen. Es ist auch hilfreich, mit einem kurzen Wochenendtrip zu beginnen, bevor man sich auf eine längere Reise begibt. Zu guter Letzt ist Selbstmotivation entscheidend. Vielleicht sind es besonderer Familienferien, die Flitterwochen mit der Partnerin oder dem Partner oder eine aufregende Geschäftsreise? Ein konkreter Anreiz kann helfen, motiviert zu bleiben und der Reiseangst mutig zu begegnen.
Wie viele und welche Menschen leiden am häufigsten darunter?
Da sich hinter der Reiseangst häufig andere Ängste verbergen, ist es nicht einfach zu beziffern, wie viele Menschen konkret an Hodophobie leiden. Grundsätzlich machen Angststörungen den weltweit grössten Teil von psychischen Erkrankungen aus. Unterschiedliche Studien haben ergeben, dass bis zu 29 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens von einer Angststörung betroffen sein können.
Kann man die Angst vollends überwinden?
Manchmal reichen Selbsthilfemassnahmen nicht aus, um Ängste zu überwinden. Bei diagnostizierten Angststörungen sollten Betroffene professionelle Hilfe suchen, wie zum Beispiel eine Psychotherapie. Besonders effektiv sind Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie, wie das schrittweise Konfrontieren mit der Angst, auch bekannt als Expositionsverfahren. Dabei setzt sich die Person einer angstauslösenden Situation aus, bis die Angst langsam nachlässt. Ein erfahrener Therapeut oder Therapeutin begleitet diesen Prozess, der erfolgversprechender ist als alleinige Konfrontation.