Wir dürfen uns nicht mehr die Hände reichen, sollen Grossveranstaltungen meiden und bald, wenns ganz blöd läuft, nicht mal mehr das Haus verlassen. Für das Gewohnheitstier Mensch Einschränkungen, die plötzlich den ganzen Alltag aus den Angeln heben. Körperkontakt ist gestrichen, socializen so gut wie unmöglich und wohin das alles noch führt, weiss bisher eigentlich niemand so genau. Die Panik ist gross, die eigene Klappe noch grösser: Klar, wer da Schuld hat, eindeutig, dass sich Regierung XY völlig falsch verhalten hat, keine Frage, man selber weiss alles am besten. Mhm, is klar …
Und jetzt? Dürfen wir plötzlich andere meiden und beschimpfen, weil wir uns in einer Extremsituation befinden? Sollten wir nicht lieber mehr zusammenhalten als je zuvor? Gibt es Licht am Ende des Pandemie-Tunnels? All das und noch mehr haben wir Prof. Dr. Ueli Mäder gefragt, emeritierter Professor für Soziologie der Universität Basel mit den Arbeitsschwerpunkten soziale Ungleichheit, Biographie- und Konfliktforschung.
Style: Der Virus hat schon viel Hass geschürt. Dabei wäre gerade jetzt Zusammenhalt so wichtig. Warum fällt es uns so schwer, uns solidarisch zu verhalten?
Prof. Dr. Ueli Mäder: Corona fordert den Zusammenhalt heraus. Der Virus macht Angst. Er verunsichert. So kommt es aus Bedrängnis zu Schuldzuweisungen und dazu, mehr auf die eigenen Vorteile zu achten. Das kann eine missgünstige Egomanie verstärken, die unsere konkurrenzgetriebene Gesellschaft ohnehin kennt. Trotzdem reagieren viele Menschen recht gelassen. Offenbar fördert die gemeinsame Sorge um die Gesundheit auch viel solidarisches Verhalten.
Ist das jetzt die berühmte Comfortzone, aus der wir ausbrechen müssen? Über den eigenen Schatten springen und sozial, fair und rational bleiben, komme, was wolle?
Ja, wir sind viel Komfort gewohnt. Jetzt zeigt sich aber, wie verletzbar wir sind. Das kann helfen, sich wieder öfter zu fragen, was wirklich wichtig ist. Zum Beispiel die soziale Kooperation. Wir kommen in unserer komplexen Welt nur gemeinsam weiter. Vielleicht ist es in bedrohten Lagen schwieriger, daran zu denken, aber umso notwendiger.
Die freie Meinungsäusserung wird oft mit Beleidigungen, Drohungen und Fremdenhass verwechselt. In Kommentaren im Internet liest man teilweise sogar von eigenen Bekannten plötzlich erschreckende Äusserungen zum Virus und Infizierten. Hat die Panik uns gebrainwashed? Oder ist es eher so, dass jetzt die Fassaden fallen und die Menschen ihr wahres Gesicht zeigen?
Wir kritisieren gerne bei anderen, was wir bei uns selbst verbergen. Deshalb ist es wichtig, sich auch offen mit der eigenen Fassaden auseinanderzusetzen. Das verbindet. Panik verengt hingegen die Sicht. Sie veranlasst Menschen dazu, angstbesetzt zu erstarren oder eigene Interessen auf Kosten von anderen zu bewirtschaften. Wichtig ist eine couragierte Haltung, die das grosse Ganze im Blick hat. Täglich sterben beispielsweise viele Menschen wegen mangelnder Ernährung. Wir diskutieren relativ wenig darüber. Vielleicht sensibilisiert uns Corona mehr dafür.
Die USA verbietet Europäern die Einreise, Grossbritannien ausgenommen. Schlittern wir auf eine Art Klassenteilung zu?
Ja, Trump forciert die Spaltung. Das erhöht die Spannungen. Klassen sind aber längst geteilt. Erhebliche soziale Unterschiede gefährden den Zusammenhalt. Das nehmen auch einzelne Mächtige besorgt wahr. Sie wollen mehr sozialen Ausgleich. Das ist dringlich und vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe. Im Grossen wie im Kleinen. Je höher die Einkommen, desto besser die Gesundheit. Wer über mehr Raum verfügt und im Zug in der ersten Klasse fährt, läuft auch weniger Gefahr, zu erkranken.
Quarantäne, Lockdown, Social Distancing. Die Pandemie zwingt uns zum Alleinsein. Wie wirkt sich das auf die Psyche aus – gerade in einer Extremsituation?
Sozial Benachteiligte fühlen sich jetzt noch mehr isoliert und leiden darunter. Etliche sind auch sonst stark auf sich zurück geworfen. Hoffentlich hilft die Corona-Debatte, das mehr in den Blick zu nehmen und niemanden im Stich zu lassen. Viele Menschen benötigen mehr Anerkennung, Teilhabe und Zuwendung. Distanz ist kein Rezept für sie.
Denken wir mal positiv. Kann so eine Pandemie auch Vorteile haben? Können wir daraus lernen? Uns weiterentwickeln? Als «bessere Menschen» aus der Krise gehen?
Die Menschen sind lernfähig. Gesellschaften auch. So eine Pandemie kann dazu führen, Altbekanntes neu wahrzunehmen. Das fängt schon bei Begrüssungs-Ritualen an. Wir sind es gewohnt, einander die Hand zu reichen. Ein Zunicken kann aber ebenso respektvoll sein. Das zeigt sich jetzt vermehrt. Inhalte sind wichtiger als Formen. Je nachdem gibt es Nähe durch Distanz. Wichtig ist der bewusste Umgang damit. Ebenso die Bereitschaft, Veränderungen miteinander zu vereinbaren. Vermutlich verstehen wir dabei andere besser, wenn wir uns eingestehen, was wir an uns selbst kaum verstehen.
Vielen Dank für ihre Einschätzung, Herr Mäder!