Im Moment wird sich ja so gerne beschwert. Weil das Zuhausesein, das Auf-Dem-Sofa-Lümmeln, das Netflixen und Bücherlesen nicht mehr frei gewählt, sondern plötzlich höflich erzwungen ist. Suchten wir «früher» nach findigen Ausreden, um nicht zur Verabredung, zur Party oder zum Sport erscheinen zu müssen, wischen wir heute im Minutentakt über unser Smartphone, in der Hoffnung, dass doch noch mal einer zum Videocall oder dem gemeinsamen Solidaritäts-Klatschen auf dem Balkon einlädt. Auf einmal sind wir alle ganz wild auf soziale Interaktion – man möchte ja bekanntlich immer genau das, was man gerade nicht haben kann.
Dann gibt es da aber noch die unter uns, die niemals gerne alleine sind. Auch vor Covid-19 schon nicht. Die Nähe, Unterhaltung und Beschäftigung brauchen, weil sie sich sonst in einem Strudel aus negativen Gedanken, Selbstzweifeln und omnipräsenten Ängsten verlieren. Diese Menschen trifft die Isolation gerade besonders hart. Wie gefährlich «Social Distancing», das Alleinsein, für sie ist und wie man als stabilere Bezugsperson helfen kann, haben wir den Zürcher Psychologen Ben Kneubühler gefragt.
Style: Es gibt Menschen unter uns, die können nur ganz schlecht allein sein. Mit sich, erst recht mit ihren Gedanken. Woher kommt diese Angst vor dem Alleinsein?
Ben Kneubühler: Ängste schützen uns vor Gefahren, und Alleinsein war für uns Menschen früher lebensgefährlich. Mit «früher» meine ich sowohl früher in der Menschheitsgeschichte, als man ohne Angst vor dem Alleinsein kaum lange überleben konnte, und auch früher, als jeder von uns ein hilfloses Baby war. Das Bedürfnis nach Bindung und Kontakt ist der wichtigste Überlebensmechanismus unserer Spezies. Wir sind nicht dafür gemacht, allein zu sein. Erkenntnisse aus der Psychologie, Biologie und den Neurowissenschaften liefern immer wieder Belege dafür. Kontakt wirkt beruhigend auf unser Nervensystem. Ich würde diese Angst daher gerne normalisieren.
Jetzt wird genau diese Angst aber zur Tagesordnung: Soziale Kontakte sollen so gut es geht eingeschränkt, das Haus möglichst nicht verlassen werden. Für labile Gemüter ein wahr gewordener Albtraum?
An dieser Stelle würde ich gerne ein bisschen ausholen: Eine im letzten Jahrhundert revolutionäre Theorie, die bis heute als unbestritten gilt, ist die Bindungstheorie.
Wenn wir Säuglinge alleine lassen, zeigen sie eine ziemlich vorhersehbare Abfolge von Verhaltensweisen, um den Kontakt wieder herzustellen. Wenn die Bezugsperson den Kontakt mehr oder weniger regelmässig wieder aufnimmt, entsteht ein sogenannter sicherer Bindungsstil. Das heisst, das Baby lernt mit dem Kontaktverlust umzugehen, und reagiert erfreut und positiv, wenn die Bezugsperson zurückkommt.
Wenn die Bezugsperson aber nicht als zuverlässig wahrgenommen wird, es also nicht sicher scheint, dass sie wieder zurückkommt, kann sich auch ein unsicherer Bindungsstil entwickeln. Dann reagieren Babys entweder sehr ängstlich, da sie fürchten, dass die Person sie sofort wieder verlässt, oder sogar ablehnend, um den Wunsch nach Bindung zu unterdrücken. Innerlich leiden sie allerdings sehr darunter, was sich zum Beispiel am Herzschlag oder den Stresshormonen im Blut ablesen lässt.
Ein sicherer Bindungsstil, die Zuversicht, dass unser Gegenüber wieder Kontakt aufnehmen wird, ist auch bei Erwachsenen noch einer der wichtigsten Faktoren, um psychisch gesund zu bleiben. Auf der anderen Seite führen die unsicheren Bindungsstile nicht nur zu Schwierigkeiten in der Partnerschaft, sondern bergen auch das Risiko an Depression, Angst- und anderen Störungen zu erkranken.
Depressionen, Angstzustände, negative Gedanken … Dafür ist jetzt natürlich besonders viel Zeit. Wie behält man da die Nerven?
Naheliegend wäre es, sich abzulenken – was aber nur bedingt funktioniert und auch nicht längerfristig zielführend ist. Gedanken beeinflussen Gefühle und umgekehrt. Gedanken sind aber häufig nur flüchtig. Daher mein Rat: Aufschreiben! Dann können sie bearbeitet werden. Welcher Gedanke löst welches Gefühl aus? Gibt es alternative Gedanken? Wenn sich Sorgen ungehindert im Kopf ausbreiten, hilft es, die einzelnen Sorgen herauszupicken und zu Ende zu denken: Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?
Ausserdem hilft es, die Gefühle zu benennen. Im Englischen sagt man «naming is taming». Wenn wir benennen können, dass wir uns verzweifelt, traurig, hilflos usw. fühlen, «zähmt» das diese Gefühle.
Sie haben uns im letzten Interview erklärt, dass Einsamkeit für unsere Gesundheit schädlicher ist als beispielsweise Rauchen, ungesunde Ernährung oder mangelnde Bewegung. Mit dem Rauchen kann man aufhören, die Ernährung umstellen, Bewegung jederzeit in den Alltag einbauen. Was tut man am besten gegen die (erzwungene) Einsamkeit?
Kontakt suchen. Es klingt sehr banal und ist je nach Fall wohl auch nicht so einfach – aber mit Sport anzufangen, die Ernährung umzustellen oder mit dem Rauchen aufzuhören sind ja auch nicht gerade einfache Projekte, die unter Umständen professionelle Unterstützung brauchen.
Auch in der jetzigen Situation ist es nach wie vor möglich, Kontakt zu Freunden und Familie aufzunehmen. Sei es per Telefon, Video, oder in Internetforen. Ein gewisses Mass an Einsamkeit ist aber völlig in Ordnung. Manchmal hilft das Wissen, dass die aktuelle Einsamkeit vergänglich ist, weil die erzwungene Isolation ja nicht ewig anhalten wird, das Gefühl zu akzeptieren.
An welchen Anzeichen erkenne ich, dass ich selber zu Depressionen neige oder mich die Umstände zumindest psychisch und physisch ernsthaft belasten?
Bei vielen Menschen ist der Schlaf ein guter Gradmesser für die psychische Belastung: Einschlafprobleme, Mühe mit dem Durchschlafen, frühes Aufwachen oder übermässiges Schlafen können Anzeichen sein. Eine anhaltende niedergeschlagene Stimmung und Mühe, sich für Dinge zu motivieren, die einem normalerweise Spass machen, ebenfalls. Es können Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel auftreten. Derzeit ist es selbstverständlich aber auch normal, solche Symptome zu haben. Es ist eine aussergewöhnliche Situation, da reagieren wir psychisch und physisch. Wir haben Ängste, weil wir nicht wissen, wie es weitergehen wird, sind traurig und frustriert, weil wir mit Verlusten konfrontiert sind. Ernsthaft wird es erst, wenn die genannten Symptome längerfristig andauern.
An wen wende ich mich dann am besten?
Viele Therapeutinnen und Therapeuten haben in den letzten Tagen ein Onlineangebot aufgebaut. Wir haben in unserer Gesellschaft gerade eine Schulung dafür angeboten, die sehr gut besucht wurde. Manche Praxen sind weiterhin geöffnet und auch die psychiatrische Versorgung in den Kliniken ist sichergestellt. In Notfällen kann man sich telefonisch bei den Kriseninterventionsstellen melden.
Kann ich als Nichtbetroffener helfen? Woran erkenne ich, dass es jemandem mit der Situation wirklich schlecht geht?
Unbedingt! Wenn sie merken, dass sich jemand immer mehr zurückzieht, könnte das ein Alarmzeichen sein. Es braucht oft nicht viel: Signalisieren Sie, ich bin da, wenn du mich brauchst, ich habe ein offenes Ohr, ich verstehe, dass es gerade besonders für dich schwierig ist, gibt es etwas, das ich für dich tun kann?
Wenn der Zustand anhält und beispielsweise sogar Selbstmordgedanken hinzukommen, ist es sicher wichtig, professionelle Hilfe einzuschalten.
Gibt es einen Umkehrschluss? Können Menschen mit Depressionen und Angstzuständen diese Extremsituation irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen? Stärker aus ihr hervorgehen?
Da bin ich ehrlich gesagt eher skeptisch. Das schliesst aber nicht aus, dass sich das Leben bei einzelnen Menschen doch zum Positiven wendet. Alle Erfahrungen prägen uns, und wenn wir diese Extremsituation rückblickend bewerten werden, sollte der Blick auf jeden Fall auch auf die Ressourcen und Stärken gerichtet werden, die wir gezeigt haben: «Wow, sieh an, was ich bewältigt habe».
Vielen Dank für die Auskunft, Herr Kneubühler!