Glück allein ist noch kein Rezept für Erfolg. Ebenso wenig wie Erfolg automatisch glücklich macht. Selbst dann nicht, wenn man aus unzähligen Bewerbern als neue Pächter der berühmtesten Bergbeiz der Schweiz ausgewählt wird. Es ist halb sechs Uhr in der Früh. Die Sonne kämpft mit tief hängenden Wolken und verwandelt den Himmel im appenzellischen Alpstein in ein rosafarbenes Schauspiel. Im ersten Stock des Berggasthauses Aescher öffnen sich ächzend zwei Fensterläden, ein verschlafenes Gesicht schaut heraus. Unten sitzen junge Menschen auf der Terrasse, rauchen eine Zigarette, trinken Kafi und hören einer Frau zu, die Anweisungen gibt: «Wir müssen Gas geben. Ich will, dass alles reibungslos abläuft.»
Sie, die mit tiefer, rauchiger Stimme spricht, ist Melanie Gmünder: 28 Jahre alt, gelernte Offsetdruckerin und die neue Gastgeberin im berühmtesten Wirtshaus der Schweiz. Ein Knattern ist zu hören, der Helikopter erscheint. Der erste von heute zehn Transportflügen steht an. «Los gehts», sagt Gmünder und sprintet in Richtung Wildkirchli. Dort soll die Ware abgeladen werden.
Im Dezember erhält die Firma Pfefferbeere, die sich unter der Leitung des Appenzellers Gallus Knechtle auf Event- und Erlebnisgastronomie spezialisiert hat, von der Wildkirchlistiftung den Zuschlag für die Pacht. Sie hat sich gegen 15 Bewerber aus dem In- und Ausland durchgesetzt. Schon da steht fest: Nicht Knechtle, 35, der gelernte Koch, wird am «Aescher» der Chef sein, sondern Melanie Gmünder aus Haslen AI, seine langjährige Mitarbeiterin und neue Mitinhaberin der Firma. Eine Einheimische also mischt mit ihrem zehnköpfigen Team – alle um die 30 Jahre alt – den «Aescher» auf.
Ein frischer Wind im Alpstein. Laut Stefan Müller, Regierungsrat und Präsident der Wildkirchlistiftung, war es eine bewusste Abkehr vom traditionellen Familienbetrieb: «Wir haben gemerkt, dass es als Familie auf Dauer schwierig ist, den ‹Aescher› zu führen. Uns überzeugten die frischen Ideen der Pfefferbeere, und wir glauben, dass sie mit den eingeschränkten Möglichkeiten dort oben umgehen können.»
Nach der Zusage ist die Freude immens. «Der ‹Aescher› ist eine riesige Plattform. Im Guten wie im Schlechten. Wer hier scheitert, scheitert vor der ganzen Schweiz», so Gmünder. Die Planungsphase war intensiv. Gespräche mit den Vorpächtern halfen. «Logistisch war der Umzug eine Herausforderung. Wir mussten von den Betten fürs Personal bis auf den Zahnstocher alles rauftransportieren.» Es ist kurz vor Mittag und die Terrasse des «Aeschers» rappelvoll.
Um die Besucherströme mit der bescheidenen Infrastruktur bewältigen zu können, hat sich das Team einiges überlegt: Neu gibt es einen Kiosk und Grill, wo sich die Gäste bei Hochbetrieb eine Wurst oder ein Bier holen können. Das helfe, um deren Nerven fürs Erste zu beruhigen. Auch die Arbeitsweise in der Küche wurde den Möglichkeiten angepasst. Alles, was viel Wasser braucht, wie beispielsweise Gemüse sieden, wird unten im Tal in der Produktionsküche erledigt. Genauso wie das Schälen. Denn nicht nur der Transport nach oben kostet. Auch alles, was runtermuss – wie Rüstabfälle –, muss bezahlt werden.
Für viele Besucher ein unverständlicher Schritt: das Streichen der berühmten Rösti von der Karte. «Wir haben uns bewusst dagegen entschieden. Da wären wir nur immer mit unseren Vorgängern verglichen worden.» Gmünder befürchtete auch, keine Köche zu finden: «Wer will schon von frühmorgens bis spätabends nur Kartoffeln schälen?» Die Skeptiker wollen sie mit schön angerichteten Tellern und Rheintaler Ribelmais – ihrem Ersatz für Rösti – überzeugen.
Bergrestaurant Aescher Ribelmais
Der Nachmittag schreitet voran. Einige Mitarbeiter verabschieden sich. Sie haben frei, gehen ins Tal. Neue kommen hinauf. Es war Gmünder wichtig, dass alle regelmässig nach Hause können. «Ich will sie ja nicht verheizen.» Viele bewarben sich aufs Geratewohl – weil sie einfach mal auf dem «Aescher» arbeiten wollten. So auch Küchenchef Jelle Goudswaard. Er schickt seinen Eltern zu Hause in Holland täglich Bilder: «Die sind ausgeflippt, als sie hörten, dass ich hier arbeite. Der ‹Aescher› ist für sie der Inbegriff der Schweiz.» Seinen Freunden erklärt er anhand einer Flasche Appenzeller Alpenbitter, wo er arbeitet – auf dem Etikett: der «Aescher». «Das ist alles noch ziemlich unreal. Aber sehr cool.»
Jeder Festangestellte schläft im eigenen Personalzimmer. Da Wasser Mangelware ist, dürfen sie die einzige Dusche nur jeden zweiten bis dritten Tag nutzen. Die Anweisung der Chefin: wenn möglich nicht länger als zwei Minuten. Manche schaffens in vierzig Sekunden. Ein Fixpunkt im Tagesablauf: das Abendessen inklusive Feierabendbier, wenn die letzten Gäste weg sind. Jeder kocht abwechslungsweise Znacht. «Es gab schon einen Fondueplausch auf der Terrasse und eine Tanzparty mit viel Musik. Wir schauen, dass wir die Zeit hier auch geniessen», sagt Gmünder. Das Erfolgsrezept für den Aescher – sie ist ihm auf der Spur.