1. Home
  2. People
  3. International Stars
  4. Das grosse Interview mit dem Ex-Radprofi Jan Ullrich: «Ich weiss nicht, ob man mir verzeiht»
loading...
In seiner neuen Prime-Doku «Jan Ullrich – Der Gejagte» räumt der Tour-de-France-Sieger von 1997 mit seiner Vergangenheit auf. Im Interview mit der Schweizer Illustrierten spricht er unter anderem darüber, wer ihm aus dem Loch geholfen hat und welche emotionale Verbindung er zur Schweiz hat. Sina Albisetti
Das grosse Interview mit dem Ex-Radprofi

Jan Ullrich: «Ich weiss nicht, ob man mir verzeiht»

Olympiasieger, Weltmeister, Gewinner der Tour de France – Dopingsünder, Drogensüchtiger, Alkoholiker. Der ­ehemalige deutsche Radsport-Held Jan Ullrich hatte erst alles und dann nichts mehr. Jetzt ist er 50 Jahre alt und räumt mit seiner Vergangenheit auf.

Artikel teilen

Jan Ullrich, wie geht es Ihnen?
Mir geht es gut. Es ist im Moment anstrengend, doch ich hatte einige Jahre Zeit, um mich von meinem massiven Absturz körperlich und mental zu erholen. Das hat mir alles abverlangt. Doch jetzt fühlt es sich gut an.

Haben Sie gedopt?
Ja!

Jan Ullrich ist einer der grossen deutschen Sporthelden. Als erster und bisher einziger Deutscher gewinnt er 1997 die Tour de France. Doch in den späten 90er-Jahren sorgt der Radsport nicht nur für Heldengeschichten, sondern auch für unzählige Dopingskandale. Ullrich sitzt entspannt auf dem roten Ledersofa in der Lobby eines Zürcher Hotels. Er lanciert seine Filmbiografie, trägt einen blauen Anzug, lächelt. Wirkt ruhig. Er weiss, welche Fragen ihn erwarten und welche Antworten er geben will. Er hat lange gewartet mit dem Geständnis. Und damit vielleicht selbst dafür gesorgt, dass sein Leben nach dem Dopingskandal, nach der Radsportkarriere derart in Schieflage geraten konnte.

Lassen wir das kurz so stehen und tauchen ein in die Anfänge Ihrer Radsportkarriere. Was für ein Radsportler war Jan Ullrich?
Ich habe mein ganzes Leben lang für diesen Sport gelebt, seit ich neun Jahre alt war. Der Radsport war meine grosse Liebe. Mit allem, was ich zur Verfügung hatte, habe ich das durchgezogen, bis zum Profi, bis zu den grössten Erfolgen. Ich habe meinen Traum gelebt, alles geopfert. Der Radsport ist etwas vom härtesten der Welt und hat mir viel abverlangt.

Wie haben Sie das Thema Doping in dieser Zeit erlebt?
Der Radsport hatte damals ein massives Problem mit Medikamenten, die nicht nachweisbar waren bei den Dopingkontrollen. Das führte dazu, dass Doping weitverbreitet war. Es ist ja nicht so, dass man einfach ein Medikament nimmt, und dann ist man plötzlich schnell. Es geht nur um das letzte Quäntchen. Mir persönlich ging es beim Doping nicht um meinen Vorteil. Es ging mir um Chancengleichheit. Man hungert, trainiert, fährt 40 000 Kilometer im Jahr, opfert alles. Und dann möchte man am Start einfach die gleichen Voraussetzungen haben.

Foto: Joseph Khakshouri 24.11.2023 Jan Ulrich auf der Offene Rennbahn Oerlikon Oerlikon (ZH)

Jan Ullrich posiert auf der offenen Rennbahn in Oerlikon. Die Züri Metzgete war immer sein Lieblingsrennen.

Joseph Khakshouri

Heute sei es anders, erzählt Jan Ullrich. Es habe sich sehr viel getan. Flächendeckendes Doping wie damals sei nicht mehr möglich. Man habe auch aus den Fehlern seiner Generation gelernt. Ullrich verfolgt den Radsport bis heute «mit ganzem Herzen». Das Thema Doping sei heute sensibler, jeder wisse, wie schädlich Doping sein könne. Die Verbände haben mehr Einfluss, die Kontrollen wurden verschärft. Es gibt höhere Strafen bis hin zu Gefängnis.

Damals gab es zahlreiche Geständnisse. Warum haben Sie nicht mitgezogen?
Meine Fallhöhe war enorm. Auf meinem Niveau bewegte sich vielleicht noch Lance Armstrong. Ich wurde über Nacht aussortiert. Als erster Sportler in Deutschland war ich in ein Strafverfahren involviert. Die Anwälte rieten mir, nichts zu sagen, solange das Verfahren läuft. Zudem war der Radsport meine grosse Liebe. Ich wollte niemanden verraten. Also habe ich geschwiegen. Es hat mich viel Substanz gekostet. Und als ich hätte reden können, hatte ich keine Kraft mehr.

Sie sind nach dem Rausschmiss aus Ihrem Team Telekom im Jahr 2007 zurückgetreten. Warum wollten Sie nicht kämpfen?
Ich wäre damals jung genug gewesen, um noch ein paar Jahre zu fahren. Doch das war in Deutschland als Jan Ullrich nicht mehr möglich. Es war für mich eine Art Strafe, dass ich meine Karriere so beenden musste. Ich hätte gern auf dem Höhepunkt aufgehört. Nicht so.

Jan Ullrich (Deutschland / Team Telekom) verfolgt von einem Kameramotorrad - PUBLICATIONxINxGERxAUTxHUNxONLY Jan Ullrich Germany team Telekom pursues from a Camera motorcycle PUBLICATIONxINxGERxAUTxHUNxONLY

1997 gewinnt Jan Ullrich als erster Deutscher die Tour de France. Sein grösster Karriere-Erfolg.

imago/Reporters

Nach dem Rücktritt flieht Jan Ullrich in die Schweiz, zieht in den Kanton Thurgau. Für ihn ein Glück, hier hat er Privatsphäre, kann seinen Kindern ein geschütztes Umfeld bieten. Die Schweiz liebt Jan Ullrich bis heute. Die Züri Metzgete war sein Lieblingsrennen, obwohl er es nie gewinnen konnte. Mit seiner Exfrau Sara hat Jan Ullrich drei Söhne im Teenageralter. Dazu kommt eine Tochter aus einer früheren Beziehung. Die Familie zieht 2016 nach Mallorca – dort nimmt das Unheil seinen Lauf. Ullrich und seine Sara trennen sich.

Wie kam es zu dieser Trennung?
Wir hatten unsere Probleme. Ich habe diese Schritte, die wichtig gewesen wären – Bewältigen, Abhaken, Verarbeiten –, nicht getan, auch weil ich nicht über meine damaligen Fehler offen reden konnte. Die Folge waren depressive Phasen. Das hat die Ehe zermürbt. Ich muss aber klar sagen – erst kam die Trennung, dann der Absturz. Ich hatte meinen letzten Halt, meine Familie, verloren.

Wenn Sie zurückdenken, was ging damals in Ihnen vor?
Ich fühlte mich verloren. Ich bin von meinem Charakter her sehr herzgeführt, sehr emotional. Ich entschied mich, den Herzschmerz nach der Trennung zu betäuben. Es wurde mehr und mehr, immer stärkerer Alkohol. Als das nicht mehr reichte, kamen Drogen dazu. Das ist eine Teufelsmischung. Ich war gefangen in diesem Strudel, der schnell in Richtung Hölle ging. Durch eine Knieoperation konnte ich zudem nicht mehr trainieren, verlor so mein strukturiertes Leben. Es kam alles zusammen.

Das alles geschah vor den Augen der Öffentlichkeit. Es gab Schlagzeilen über Drogen- und Alkoholkonsum. Wo stand Jan Ullrich in dieser Zeit?
Es ging nicht mehr tiefer. Ich bin zwar sehr leidensfähig, doch ich war am tiefsten Tiefpunkt, den ein Mensch erreichen kann. Bei dem ganzen Zeug, das ich intus hatte, wäre auch ein Herzstillstand keine Überraschung gewesen.

Er hält inne. Das Sprechen fällt ihm schwer. Doch er will darüber sprechen. Vor allem für sich selbst.

Foto: Joseph Khakshouri 24.11.2023 Jan Ulrich auf der Offene Rennbahn Oerlikon Oerlikon (ZH)

Das späte Dopinggeständnis ist für Ullrich eine riesige Erleichterung. Jetzt endlich fühlt er sich frei.

Joseph Khakshouri

Und doch haben Sie entschieden, so kann es nicht weitergehen. Wann kam dieser Moment des Augenöffnens?
Für mich waren die Kinder ausschlaggebend. Ich hatte verstanden, für sie musste ich den Schalter umlegen. Mit allen Konsequenzen. Als der Entschluss gefasst war, habe ich sehr schnell alles verändert. Ich bin zurück in meine Heimat gezogen, habe mir Hilfe gesucht. Erst bei alten Freunden, dann ging ich in eine Klinik, habe mit Psychologen gearbeitet. Ich habe nur schon körperlich rund eineinhalb Jahre gebraucht, um mich zu erholen. Dazu kam die mentale Geschichte. Doch ich denke, meine Sportlervergangenheit hat mir geholfen. Ich hatte gelernt, nicht so schnell aufzugeben, zu kämpfen.

Sind Sie heute noch nach etwas süchtig?
(Lacht.) Nur nach dem Leben. Ich habe eine neue Lebenslust entdeckt.

Der Rucksack ist heute leichter. Er fühlt sich freier. Mit seiner Exfrau Sara versteht er sich hervorragend, ebenso mit seinen Kindern, die sehr oft bei ihm sind. Auch seine neue Partnerin, Elizabeth Napoles, ist in die Familie involviert. Dafür ist er sehr dankbar. Beruflich geht es bergauf. Im neuen Jahr möchte er eine Eventreihe organisieren, dabei können Hobbyathleten Radtouren mit ihm buchen. Zudem erzählt er seine Geschichte in der Dokuserie «Jan Ullrich – Der Gejagte». Und er sitzt oft wieder auf dem Velo.

MUNICH, GERMANY - NOVEMBER 22: Elizabeth Napoles and Jan Ullrich attend the screening of "Jan Ullrich – Der Gejagte" at Filmtheater Sendlinger Tor on November 22, 2023 in Munich, Germany. (Photo by Hannes Magerstaedt/Getty Images)

In Elizabeth Napoles hat Jan Ullrich eine neue grosse Liebe gefunden.

Getty Images

Sie feiern am 2. Dezember Ihren 50. Geburtstag. Was bedeutet Ihnen diese Zahl?
Es war ein extremes Leben. Ich kann auf vieles stolz sein. Doch ich habe viele Fehler eingebaut. Wichtig ist für mich, wo ich heute stehe. Ich bin gesund, kann Sport machen, kann meine Vaterrolle leben. Ich habe ganz viele Türen, die aufgehen. Unter dem Strich bin ich sehr zufrieden.

Sie haben nun Ihr Gewissen erleichtert. Die ganze Welt kennt die Wahrheit. Wenn Sie mit jemandem reden, wissen Sie, Ihr Gegenüber denkt jetzt: «Ach, der Dopingsünder.» Wie ist es für Sie, damit zu leben?
Ich habe diese Aufarbeitung für mich gemacht. Aber als Jan Ullrich holt einen das in der Öffentlichkeit immer wieder ein. Ich denke: So, jetzt wisst ihr alles. Jetzt könnt ihr mich lassen. Es war schwierig, die Hosen so herunterzulassen. Vor der ganzen Nation. Doch ich musste das tun: für mich! Ich war ganz oben, dann ganz unten. Jetzt habe ich meine Mitte gefunden. Zu meinen Fehlern und zu meiner Vergangenheit habe ich mich öffentlich bekannt. Ich hoffe, die Menschen werden den Kontext meines früheren Handelns besser verstehen. Ob sie mir verzeihen, weiss ich nicht. Was ich aber weiss: Jetzt fühle ich mich endlich frei.

Von Nadine Gerber am 3. Dezember 2023 - 17:55 Uhr