Vier Stockwerke hoch ist sie, die Polyklinik im olympischen Dorf in Paris, und ausgestattet mit modernsten Geräten. Die besten Ärzte der Welt kümmern sich hier um kleine und grosse Verletzungen von Athletinnen und Athleten. Medienschaffende haben zu diesem Bijou allerdings keinen Zutritt. Drum gehts fürs Interview mit Claudio Rosso (45) auf einen Spaziergang durch die Stadt an der Seine.
Der Orthopäde und Sportarzt aus Basel steht bereits zum zweiten Mal als Volunteer in Diensten des Internationalen Olympischen Komitees IOC. «Ich habe 2014 am ersten Sportmedizinerkurs des IOC teilgenommen. Danach wurde ich eingeladen, nach Rio zu kommen. Dort war 2016 mein erster Einsatz bei den Spielen», erinnert sich Rosso. In Tokio habe er nicht teilnehmen dürfen, weil nur Ärzte mit japanischer Zulassung akzeptiert gewesen seien. «Doch jetzt kam das IOC wieder mit einer Anfrage auf mich zu.» Der Sportmediziner muss nicht lange überlegen. Obwohl er auf Lohn verzichtet, seine Praxis im Stich lässt und sowohl Reise- wie auch Hotelkosten selbst berappen muss, sagt er sofort zu. Olympia – ein spezieller Geist, Faszination.
Zwei Wochen lang betreut er in der Polyklinik im olympischen Dorf verletzte Sportlerinnen und Sportler. Für den auf Schultern- und Ellbogenverletzungen spezialisierten Experten quasi ein Heimspiel. «In der Polyklinik arbeiten aber nicht nur Orthopäden», erzählt Claudio Rosso. «Es sind auch Urologen, Gynäkologen, Dermatologen, Physiotherapeuten oder Osteopathen im Einsatz.» Und eine Notfallstation sei rund um die Uhr geöffnet.
Claudio Rosso sieht die verletzten Athletinnen und Athleten erst, wenn Not- oder Teamärzte nicht mehr weiterhelfen können. «Diese verfügen nicht über unsere Ausrüstung», erklärt er. «Wir haben Röntgen, MRI und Ultraschall zur Verfügung, können genauere Diagnosen bieten.» Die schlimmsten Verletzungen in seiner Praxis auf Zeit: Ellbogenluxationen, ausgekugelte Schultern, Schultereckgelenksprengungen. «Gerade Betroffene aus Drittweltländern wünschen sich eine Operationsempfehlung. Im Ausland sind sie oft besser versichert und haben in ihrer Heimat häufig nicht die Möglichkeit, sich nach unseren Standards operieren zu lassen.»
Speziell vorbereiten musste sich Rosso nicht: «Das ist das Schöne an der Medizin: Sie ist überall gleich. Nur bei den Medikamenten muss ich aufpassen, ich will ja nichts Verbotenes verabreichen.» Hatte er schon einen Superstar auf dem Behandlungstisch? «Ja», sagt Rosso und schmunzelt. Mehr darf er nicht verraten. Aber: «Er wird sich bei mir in Basel operieren lassen.»
Spitzensport ohne Olympia
Neben seinen Schichten geniesst der Arzt, der auch als Professor für Orthopädie an der Universität Basel lehrt, die Freizeit. «Hier dauert eine Schicht achteinhalb Stunden. In Basel arbeite ich oft zwölf bis vierzehn Stunden. Ich habe viel mehr freie Zeit hier.» Sightseeing steht nicht auf dem Programm, lieber verfolgt er den einen oder anderen Wettkampf live oder am TV. Besonders interessiert sich der Sohn einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters mit Schweizer Pass für die Leichtathletik. «Sie ist für mich das Herz der Spiele.»
Beim Karatetraining kann Claudio Rosso runterfahren, sich entspannen. Mit seinen zweiten Rängen an Welt- und Europameisterschaften hätte er das Zeug gehabt, selbst Olympionike zu werden. Nur war Karate vor Tokio 2021 nie olympisch. 2009 beendete er seine Spitzensportlerkarriere. «Sport und Medizin waren auf diesem Niveau nicht vereinbar.»
Viel Zeit verbringt der Familienmensch auch mit Ehefrau Anja und den Töchtern Alessia und Luisa. «Wir sind eine sportliche Familie. Anja spielt Tennis, die Mädchen lieben Leichtathletik und Turnen.» Gern würde Rosso eines Tages wieder Karate auf dem Olympia-Kalender sehen. Doch auch wenn nicht: Als Arzt ist er auf jeden Fall in vier Jahren wieder mit dabei.