Camille Balanche und Freundin Emilie Siegenthaler sitzen zu Hause in Biel BE im Wohnzimmer und spielen «Yatzy». Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, wenn die beiden Downhill-Bikerinnen nicht gerade auf den Trails und Pisten unterwegs sind. Balanche beginnt mit Würfeln. «Eins, zwei, drei, vier, fünf! – eine grosse Strasse», sagt sie. Ihr nächster Wurf: Full House. «Das gibts ja nicht!», ruft Siegenthaler, 34. Doch wirklich überrascht ist sie nicht. «Camille ist ein Glückspilz und gewinnt fast immer, egal, was wir spielen!»
Nicht nur im Spiel gelingt Camille Balanche im Moment fast alles. Auch sportlich erlebt sie einen Höhenflug. Vor zwei Wochen wird die 30-Jährige an der Mountainbike-WM im österreichischen Leogang Downhill-Weltmeisterin. «Es war alles ziemlich überwältigend. Zuerst war ich ganz oben. Dann kam aber auch schnell die Müdigkeit, körperlich und mental», erzählt sie und unterstreicht mit einer Handbewegung die Achterbahnfahrt.
Besonders turbulent machte die WM-Woche, dass sich ihre Freundin und Konkurrentin Emilie, die sich ebenfalls Aussenseiter-Chancen auf eine Medaille ausrechnete, tags zuvor im Training am Knie verletzte und die Saison abbrechen musste. Emotional ist ihr Goldgewinn auch wegen des Überraschungseffekts: Balanche fährt erst seit sechs Jahren Mountainbike – und erst in der dritten Saison im Downhill.
Ihr rasanter Aufstieg kommt dennoch nicht ganz unerwartet. Wer ihr Palmarès anschaut, sieht: Camille Balanche ist ein Multitalent. Die Tochter des Weltcup-Skispringers Gérard Balanche, 56, war bereits in einem Dutzend Sportarten aktiv. In Le Locle NE aufgewachsen, beginnt sie zuerst mit Skifahren, dann gehts unter anderem mit Leichtathletik und Badminton weiter. Auch Skispringen probiert sie aus, springt von der 40-Meter-Schanze. «Doch in unserer Region wäre das schwierig geworden.» Am Fechten – sie wird Junioren-Schweizer-Meisterin – verliert sie schnell das Interesse, weil sie auf regionaler Ebene keine Konkurrenz hat. «Ich gewann etwa 36-mal am Stück, das forderte mich nicht mehr», sagt sie ohne die kleinste Spur von Überheblichkeit. Danach spielt sie Eishockey – der Skepsis ihrer Eltern zum Trotz. «Sie sagten: ‹Okay, wenn du selber eine Ausrüstung auftreibst und bezahlst.›» Mit dem Nationalteam nimmt sie 2010 an Olympia in Vancouver teil.
Bald darauf hört sie zugunsten des Sportstudiums in Magglingen BE mit Eishockeyspielen auf, da es in der Nähe kein Frauenteam gibt. Dafür beginnt sie mit Volleyball und Biken. Nach einem schweren Bikesturz, bei dem sie drei Halswirbel bricht, kann sie lange ihren linken Arm nicht mehr richtig heben. Das wars mit Volleyball.
Dass sie schliesslich im Downhill-Biken landet – «wie Skiabfahrt, einfach auf dem Velo», verdankt Balanche auch ihrer Freundin, WM-Fünfte von 2019. Und beide verdanken dem Sport, dass sie sich kennengelernt haben. Als Balanche Enduro-Rennen fährt – eine Mischung aus Downhill und Cross-Country –, bittet sie Emilies Vater Nicolas, Trainer von Olympiasieger Nino Schurter, um Hilfe. Emilie und Camille bilden fortan eine Trainingsgemeinschaft, und bald wechselt Camille die Disziplin. Bis die beiden privat ein Paar werden, dauert es jedoch. «Ich spürte schnell, dass da mehr ist», sagt Siegenthaler, die schon immer wusste, dass sie auf Frauen steht. Balanche brauchte etwas Zeit. «Immerhin habe ich vor Emilie 28 Jahre lang Männer geliebt.»
Nun teilen die zwei seit drei Jahren ihr Leben. Und ergänzen sich gut. Balanche sei «eher chillig» und Siegenthaler strukturiert und diszipliniert. Dass sie denselben Job ausüben, habe viele Vorteile. «Wir können zusammen trainieren und über alles reden. Übers Material, übers Training, über die richtige Taktik», sagt die studierte Psychologin Siegenthaler, die ihrer Freundin vor allem zu Beginn Tipps gab, mit dem Druck und der Nervosität umzugehen. «Das hat mir sehr geholfen. Denn das Gefühl vor dem Rennstart – Horror! Nur schon wenn ich jetzt wieder daran denke», sagt Balanche.
Trotz aller Unterstützung füreinander ist die Konkurrenzsituation nicht immer einfach. «Ich habe stets gewusst, dass sie mich irgendwann sportlich überholen wird», sagt Siegenthaler. «Ich bin ehrlich: Ich habe nicht genau gewusst, wie ich reagieren würde.» Nun ist es so weit – zumindest für den Moment. «Und ich bin froh, dass ich mich mega für sie freuen kann!» Nicht selbstverständlich. Denn wenns zählt, wollen sie beide gewinnen. Im Sport wie im Spiel.