Schritt für Schritt stapft Linda Züblin, 34, an diesem frostigen Morgen durch den Eiskanal des Olympia Bob Run: 1722 Meter vom Ziel unten in Celerina hinauf zum Startpunkt in St. Moritz. In jeder der 19 Kurven tastet sie die Wand ab, fährt prüfend mit ihren in warme Handschuhe eingepackten Fingern über Unebenheiten, notiert in Gedanken, was ihr Coach, Bob-Olympiasieger Beat Hefti, 43, ihr an Tipps gibt, um heil und so rasant, wies nur geht, durch die «Snake» zu kommen (eine Kurve wie eine Schlange), den «Horse-Shoe» (Hufeisenform), «Devils Dyke» (Teufelsdamm) oder «Telephone Corner» – wer früher hier rausflog, gab durch, ob seine Knochen unversehrt waren.
60 Minuten läuft sie bergauf. 75 Sekunden saust sie im Bob bergab. In mancher Kurve wirken Zentrifugalkräfte bis 5 g: Linda wird dann mit dem Fünffachen ihres Körpergewichts von 63 Kilo an die Bobwand gedrückt.
Als Siebenkämpferin verabschiedet sie sich 2016 vom Spitzensport, hängt die Karriere als Athletin an den Nagel. Sie packt ihren Rucksack – und reist um die Welt. «Das war mein grösster Wunsch», sagt die Thurgauerin. Monatelang lebt sie aus dem Rucksack, stellt fest: «Ich brauche nicht viel zum Leben und zum Glücklichsein.» In Los Angeles bleibt sie 14 Monate. Skatet. Surft. «Ein neues Lebensgefühl.» Zuvor hatte sie alles dem Sport untergeordnet. «Als Siebenjährige begann ich mit Leichtathletik, fortan waren meine Tage von morgens bis abends durchgetaktet, verplant und klar strukturiert.»
Bei einem Zwischenstopp daheim in der Schweiz erfährt Züblin von einem Hilfsprojekt in Kambodscha. Spontan reist sie nach Südostasien, jobbt auf einer Farm, unterrichtet sieben Monate als Sportlehrerin mehr als 300 Kinder eines Slums. Die Pandemie zwingt sie zur Heimkehr. «Ohne Corona wäre ich noch immer dort – bei 26 Grad.»
Stattdessen schraubt Linda nun, gerade oben am Starthaus angekommen, mit blanken Fingern bei Minusgraden Kufen an die «Mamba»: Mit diesem schwarzen Monobob will Züblin nächstes Jahr an die Olympischen Winterspiele in Peking. Dass ausgerechnet sie als «Gfrörli» in einem Bob sitzt, fädelte Boblegende Erich Schärer, 74, ein. Der Olympiasieger und siebenfache Weltmeister gilt als wichtigster Promoter des Monobobs. Schärer, seit Jahrzehnten Berater des Bob-Clubs Zürichsee, suchte eine Athletin, die am Start sprintschnell ist – und der neuen Olympiadisziplin zu etwas Glamour verhelfen könnte.
Schärer steht am Eiskanal, verfolgt Züblin – und ist «sehr zufrieden» mit dem, was er heute sieht. «Sie ist motiviert, strotzt vor Energie. Und wenn sie weiter gute Resultate liefert, hat sie grosse Chancen, mit zu den Besten zu gehören.» Damit Züblin auch im Zweierbob Erfolge feiert, sucht Schärer aktuell noch eine Anschieberin.
Ihr erstes Rennen als Bobpilotin fuhr Linda in Altenberg. Der sächsische Eiskanal ist selbst unter erfahrenen Athleten gefürchtet. «Mir wird fast schlecht, wenn ich zurückdenke.» Sie bekommt in Deutschland Sätze zu hören wie «Ihr seid total gaga» oder «Wir rufen schon mal den Krankenwagen». Linda bezwingt den Enso-Eiskanal, der als einer der anspruchsvollsten der Welt gilt. Nicht zuletzt dank Beat Hefti und dessen Micarna-Team. «Er coacht mich wahnsinnig gut.» Hefti ist ebenfalls voll des Lobes. «Ich kenne keine Bobfahrerin, die lauftechnisch so stark ist wie Linda. Und nach über 200 Fahrten hat sie auch ihren Schlitten gut im Griff.» Jetzt müsse sie nur noch die richtige Balance zwischen An- spannung und Lockerheit finden – und über den Sommer sechs Kilo Gewicht zulegen. «Ich bin absolut überzeugt, Linda kann ganz vorne mitmischen.»
Selbst Stürze hat sie schon hingelegt. «Da schlägt das Herz schneller.» Auf der kritischen Bahn in Altenberg hats Linda auch schon eiskalt erwischt. «Erst wenn du gestürzt bist, bist du ein richtiger Bobfahrer», sagt sie grinsend.
Schweizerkreuz auf den Wangen – oder sind es Thermopatchs, die sich Linda Züblin ins Gesicht pflastert? Von wegen: «Mir sind alle Helme zu gross. Wenn ich im Bob den Kanal runtersause, rutscht und reibt der Helm so im Gesicht, dass es offene, blutige Wunden gibt.» Abhilfe schaffen ein in den Helm gestopftes Shirt von Coach Beat Hefti – und die Pflästerli.
Gut arrangiert sie sich mit der Kälte. Kurz vor dem Start zur ersten der heute drei Trainingsfahrten sitzt Linda in der Umkleide: Wolldecke über den Füssen, Thermoskanne mit Tee – und ein Buch in der Hand: «Kuckuckskind» von Krimiautorin Ingrid Noll. «An die Temperaturen gewöhne ich mich langsam.» Manchmal staunt ihre Familie schon, wenn Linda nur im T-Shirt unter der Jacke auftaucht statt wie früher dreilagig eingepackt. Und lesen tut sie sogar, wenn sie fünf Minuten an der Migros-Kasse warten muss.
Linda Züblins Motto: «Sei offen zum Leben und für Überraschungen!» Weil sie das lebt, sitzt sie jetzt im Bob. Sie hat noch eine Überraschung: Im Mai beginnt sie ihre Ausbildung bei der Kapo Zürich. Das sei ihr zweitletzter Mädchentraum. Und der letzte? «In einem Schloss leben.» Linda wäre auch im Eisschloss happy.