Was braucht man mehr als das Wesentliche? In Marc Hirschis Zimmer hängt das Weltmeistertrikot in einem Rahmen an der Wand. Drei Champagnerflaschen stehen auf dem Boden, auf einem Gestell Pokale und Medaillen. «Die motivieren mich, wenn es mal nötig ist», sagt Hirschi, als er auf dem Bett sitzt, einen Bildband von Fabian Cancellara in den Händen.
Motivationsprobleme bei Marc Hirschi? Kaum vorstellbar, so steil wie die Karriere des 22-Jährigen bisher verlaufen ist. Er ist Bahn-Weltmeister bei den Junioren, Europa- und Weltmeister auf der Strasse bei den unter 23-Jährigen. Und nun verblüfft er an seiner ersten Tour de France. In zwei Etappen wird er erst im Zielsprint und nur hauchdünn geschlagen. Am Donnerstag dann fährt er doch noch zum Tagessieg: In Sarran Corrèze kürt sich der Berner zum ersten Etappensieger an der Tour de France seit Fabian Cancellara 2012.
Elf Jahre ist es her, seit er zum ersten Mal an einer Tour de Suisse als Zuschauer dabei war. Als zehnjähriger Bub fährt er mit seinem Vater mit dem Velo ans Abschluss-Zeitfahren nach Bern, sieht morgens zu, wie alles aufgebaut wird, wie sich die Fahrer vor den Teambussen aufwärmen – und wie Fabian Cancellara das Rennen gewinnt. «Er war von Anfang an mein Vorbild und meine Inspiration», sagt Hirschi, der in Ittigen BE nur ein paar hundert Meter neben dem Ex-Profi lebt.
Hier erholt sich Marc Hirschi, wenn er zwischen Renneinsätzen oder Trainingslagern zu Hause ist. Auch die drei Geschwister Angela, 24, Fabian, 20, und Joel, 14, leben noch daheim. Am liebsten geniesst Hirschi das Nichtstun im Garten, schaut Netflix und Fussball oder geht mit Kollegen an die Aare. Zu Hause gross über seine Karriere sprechen tut er nicht. «Er ist der Ruhige unter uns», sind sich alle einig.
Das hat er von Vater Heinz, 52, genauso wie seine Leidenschaft für den Radsport. Dieser begann nach dem Militär mit dem damals neuen Mountainbike – zu spät, um Profi zu werden, aber rechtzeitig, um einen grossen Eifer zu entwickeln. Und Marc zog mit. Er tritt dem Radrennclub Bern bei, lernt aber auch von seinem Vater viel.
Dieser hält Pulswerte des Jugendlichen fest, lässt ihn ein Trainingstagebuch führen – alles spielerisch, die Freude steht im Vordergrund. Und er hält ihn früh dazu an, seine Mitfahrer und Gegner genau zu beobachten. Übersicht und Cleverness – Rennen werden nicht nur mit den Beinen gewonnen. Sein Renninstinkt ist heute einer seiner grössten Trümpfe.
Anderes muss er ihm nicht beibringen. Dass Marc Ehrgeiz hat, zeigt er immer wieder. Vor Jahren folgt er mit der Familie einmal für ein paar Tage der Tour de France – schlafen im Auto, zwei Tage vor dem Rennen wie Tausende andere Fans die Pässe abfahren. An der Alpe d’Huez lässt der Youngster reihenweise Amateurfahrer stehen. Heute gehört er zu den weltbesten Profis – und gehört selber zu den Bejubelten.
Seit 2019 fährt Hirschi beim Team Sunweb bei den Profis. Normalerweise brauchen Neoprofis zwei, drei Jahre, um sich an die Distanzen und das Tempo auf höchster Stufe zu gewöhnen. Und Hirschi? Verliert im ersten Profijahr beim Klassiker Mailand–Sanremo nicht mal eine halbe Minute. Fährt bei der E3 Classic in Belgien in die Top Ten. Bei der Baskenland-Rundfahrt wird er einmal Vierter und einmal Fünfter. «Das hat mich schon selbst überrascht.»
In der Zukunft sieht er sich vor allem für schwere Eintagesklassiker und kleinere Rundfahrten geeignet. Schwester Angela sagt: «Wir sind so stolz, was er erreicht hat. Es ist fast unwirklich, wie er gegen die Älteren fährt.» Im Team mit Stars wie Nicolas Roche oder Michael Matthews fühlt sich der Neuling wohl. «Für einen Leader, den man respektiert, gibt man noch ein bisschen mehr, als wenn mans einfach als Job betrachtet.»
Bei der Tour de France mitzufahren, war schon immer Hirschis Traum. Er hilft seinem Team – und macht sich selber einen Namen. Einen, den das nicht überrascht: Sein einstiges Idol und heutiger Manager Fabian Cancellara. Nun ist es der Ältere, der dem 17 Jahre Jüngeren die Daumen drückt.