Der Rekord liegt bei drei Minuten. Oder vielleicht auch nur bei zwei. Nein, das ist keine Zeit von Mujinga Kambundji. Wenn sie rennt, zählen nur noch Hundertstel- und Tausendstelsekunden. Nein – drei Minuten dauert es jeweils höchstens, bis im Rosengarten in Bern wieder jemand stehen bleibt und der 27-Jährigen gratuliert. Der Sprinterin, die in ihrer Freizeit zu Fuss lieber sehr gemächlich unterwegs ist. Der Bernerin, die vor zehn Jahren zum ersten Mal Schweizer Meisterin wurde. Und sich ihren Weg an die Weltspitze seither mit Hartnäckigkeit, Talent und einer gewissen Coolness gebahnt hat.
Und nun das: WM-Bronze über 200 Meter! Ausgerechnet im Sprint, der Disziplin mit dieser Leistungsdichte, eine Schweizerin mit einer WM-Medaille! Kambundji strahlt, Kambundji lächelt und bedankt sich herzlich bei jedem einzelnen Gratulanten.
Sie ist keine laute Leaderin, aber mit ihrer Zielstrebigkeit dennoch Vorbild. Drängt sich nicht in den Vordergrund, zieht die Leute mit ihrer Herzlichkeit dennoch in ihren Bann. Das Gesicht der Schweizer Leichtathletik ist ein ruhiges. Das in den vergangenen Jahren aber in diese Rolle hineingewachsen ist – und sich heute wohlfühlt.
«Mir ging es darum, herauszufinden: Wo sind meine Grenzen?»
Mujinga Kambundji, wie tanken Sie nach dieser intensiven Saison wieder Kraft in der Pause?
Meistens will ich so viel schlafen wie möglich, aber wenn ich keinen Sport mache, brauche ich deutlich weniger Schlaf. Neben den Ferien in Mauritius habe ich vor, einfach mal in Bern zu sein, Leute zu treffen, zu Hause auszumisten und einfach die Zeit hier zu geniessen. Ich esse, worauf ich Lust habe, Chips und Desserts zum Beispiel, und mache sicher vier Wochen lang keinen Sport. Gar keinen. Das brauche ich. Und mal nicht erreichbar sein!
Sie habens gern gemütlich. Wann wirds bei Ihnen trotzdem so schnell und zackig wie auf der Bahn?
Bei allem, was irgendwie mit Adrenalin zu tun hat. Mit einem schnellen Auto fahren, in den Europapark gehen, Fallschirm springen oder Bungeejumpen!
Ist Ihnen schon richtig bewusst, dass Sie die erst achte Schweizer Medaille an Leichtathletik-Weltmeisterschaften gewonnen haben?
Zum ersten Mal realisierte ich es, als ich einen Zeitungsartikel mit den Namen meiner Vorgänger gelesen habe: Werner Günthör, André Bucher oder Anita Weyermann. Erst da habe ich gecheckt, wie selten das eigentlich ist. Vor allem im Sprint: Vor ein paar Jahren war das noch überhaupt nicht realistisch. Es war schon eine tolle Sache, wenn sich ein Schweizer Sprinter oder eine Sprinterin für die WM qualifiziert oder für einen Halbfinal oder EM-Final.
Sie hatten aber höhere Ziele?
Mir selbst ging es mehr darum, rauszufinden, wo sind meine Grenzen, wie schnell kann ich noch werden? Nicht unbedingt aber mit dem Ziel, eine Medaille zu holen. Das ist schon der Teil, bei dem es noch ein bisschen Zeit braucht, bis es wirklich angekommen ist. Ich spüre aber auch an den Reaktionen, was mir gelungen ist: Wenn mir zum Beispiel Athletinnen wie die achtfache Weltmeisterin Shelly-Ann Fraser-Pryce herzlich gratulieren.
«Irgendwann kommt etwas anderes, eine eigene Familie oder so»
Sie haben sich in den letzten Jahren stark entwickelt.
Ja. Ich habe mehr alleine trainiert, nahm mehr Einfluss bei Entscheidungen, will viel mehr wissen, was läuft, was geplant ist. Auch persönlich habe ich das Gefühl, ich sei älter geworden. Es ist so, wie wenn du ausziehst, in einer WG lebst und dann irgendwann das Gefühl hast, du willst dein eigenes Zuhause haben. Das hat sich verändert. Als ich damals nach Mannheim ging und die ganze Zeit unterwegs war, hat das sehr gfägt. Jetzt will ich länger an einem Ort sein, vor allem zu Hause, mit Familie und Freunden. Sesshaft ist vielleicht das falsche Wort. Aber vor ein paar Jahren sah ich das Karriereende noch gar nicht vor mir, da gabs kein anderes Thema als den Sport. Nun ist das mehr im Hinterkopf: Irgendwann kommt etwas anderes, eine eigene Familie oder so.
Sie hatten viele Wechsel in Ihrem Umfeld. Ist es nun perfekt?
Ja, ich fühle mich wirklich sehr wohl. Ich habe so gute Leute um mich herum. Und ein stärkeres Umfeld zu Hause, damit ich etwas mehr zur Ruhe kommen kann. Das ist mir im Moment sehr wichtig. Mit dem Trainer Steve Fudge und der Trainingsgruppe in London habe ich es gut, ich bin aber auch wahnsinnig froh um Adi Rothenbühler, der hier ist. Und mein Management, das jetzt viel näher ist. Das ist es: Es ist alles näher, fühlt sich familiärer an.
Und welche Rolle spielt Ihre richtige Familie?
Es ist der Kreis, in dem ich am ehrlichsten sein kann. Ich mich nicht verstellen muss. Zum Beispiel in Doha, als es so lange dauerte mit der Dopingkontrolle, der Pressekonferenz und so. Dann freut man sich gemeinsam, aber ich muss nichts mehr aufrechterhalten, ich darf einfach müde sein. Und die Leichtathletik ist auch nicht immer ein Thema, wir reden über anderes, ich bin dort wieder normal. Neutral.
«Meine jüngste Schwester ist auf dem gleichen Weg wie ich»
Ihre jüngste Schwester Ditaji startet gerade durch. Wie ist es, das zu sehen?
Sehr schön. Sie ist zehn Jahre jünger, und vor zehn Jahren durfte ich wie sie beim Europäischen Olympischen Jugendfestival starten. Sie hat diesen Sommer dort Bronze über 100 Meter Hürden geholt. Es ist schön zu sehen, dass sie auf demselben Weg ist wie ich. Ich habe so viel gelernt. Wenn sie nur annähernd dasselbe erleben darf, wird es toll.
Sind Sie einander ähnlich?
Ziemlich, ja. Wie wir reden, von der Gestik her, aber auch gewisse Grundzüge im Charakter. Wir verstehen uns ohne grosse Erklärungen.
Nimmt sie Tipps von ihrer grossen Schwester an?
O ja, sie fragt immer! Auch die anderen beiden Schwestern. Und meine Eltern haben nun eine Ahnung, wie alles läuft – das hilft!