Langsam ruckelt die schmucke blaue Standseilbahn in Locarno los und ächzt hoch nach Orselina. Palmen säumen die Gleise. Die Fahrgäste zücken ihre Handys. Oben angekommen, offenbart sich ein wunderbarer Blick auf die Wallfartskirche Madonna del Sasso, den glitzernden Lago Maggiore und die Berggipfel dahinter. Pullis werden aus- und Sonnenhütte angezogen. Auf den steinernen Tischen eines Grottos stehen die ersten Aperol Spritz. Es ist das Tessin aus dem Bilderbuch und der perfekte Auftakt für unseren «Weekend-Trip» im Süden der Schweiz; im Locarnese mit seinen bekannten Ferienorten Locarno und Ascona sowie seinen vielfingrigen Tälern.
Zurück nach Orselina: Bergliebhaber steigen bei der Wallfahrtskirche in die Panoramabahn – ein Entwurf des Tessiner Architekten Mario Botta – und fahren weiter bis Cardada, auf den Hausberg Locarnos. Die Gondeln sind auch am Boden verglast und offenbaren einen Blick in die Tiefe. Eine Aussichtsplattform bietet eine sagenhafte Fernsicht. Nach knapp dreissig Minuten erreicht man über Wiesen die Alpe Cardada und kehrt in der Bergbeiz Capanna Lo Stallone ein. Spezialität des Hauses: die in einem grossen Topf über dem Feuer gekochte Polenta.
Wer die Gegend lieber auf Seehöhe erkundet, spaziert von Orselina auf einer breiten steinernen Treppe entspannt in dreissig Minuten nach Locarno zurück. Oder fährt wieder mit der Bahn. Gegenüber der Talstation versteckt sich die Vera Gelateria, die sich mit ihren ohne künstlichen Zusatzstoffen versehenen Glaces als idealen Zwischenstopp eignet. Die Sorten variieren je nach Saison und reichen von Birnensorbet bis zu Zwetschgenglace mit Zimt.
Die Altstadt von Locarno bietet neben der Piazza Grande – ein Espresso in einem der Cafés unter den Arkaden ist Pflicht – auch viele Spezialitätengeschäfte. Zum Beispiel die Pasticceria Marnin, bekannt für ihre Panettone und Amaretti. Ihr Ableger an der Piazza San’Antonio ist der ideale Ausgangspunkt für einen Streifzug durch die Altstadt. Wer Freude an lokalen Produkten hat, fährt zum Landwirtschaftsbetrieb Terreni alla Maggia nach Ascona. Mit 98 Metern über Meer ist das Maggia-Delta bei Ascona das am tiefsten gelegene Gebiet der Schweiz. Hier wird auf dem 150 Hektaren grossen Betrieb Reis angebaut. Der Hof gehört zu einem der nördlichsten Orte der Welt, wo das sonst in den Tropen heimische Getreide wächst. Terreni alla Maggia produziert rund 450 Tonnen Rohreis im Jahr. Im Hofladen kann man diesen kaufen, nebst Mais, eigenem Wein und weiteren Tessiner Köstlichkeiten. Auf Anmeldung sind Betriebsführungen und Weindegustationen möglich.
An lauen Abenden locken Grotti und Osterias ins Freie. Zwei währschafte Empfehlungen für Grotti: «America» in Ponte Brolla und «Baldoria» in Ascona. Eine etwas gehobenere Küche findet man in der Osteria dell’Enoteca in Losone. Im Garten mit Kiesboden und Pergola, die im Sommer ein dickes Gewand Weinreben trägt, halten Heike und Giuseppe Greco die Gastfreundschaft hoch. «Tolle Restaurants gibt es hier viele. Wir wollen uns mit unserem Service abheben», erklärt Heike Greco. Die gebürtige Deutsche lernte ihren Mann während der Arbeit in Klosters kennen. 2002 zogen sie ins Tessin. Giuseppe, ein Sizilianer, fühlte sich im heimischen Sprachraum sofort wohl. Und auch Heike lernte die Vorzüge des Südens schätzen. «Hier gibt es fast alles: Täler, Seen, Berge – nur kein Meer. Aber dafür haben wir Palmen.» Die Pasta in der Osteria – bei unserem Besuch mit Venusmuscheln oder Kalbsragout – produziert Küchenchef und Miteigentümer Pablo Ratti im Haus. Auch Vegetarier und Veganer werden fündig. Ratti bereitet gerne spontan eine fleischlose Variante wie Risotto mit Randen zu.
Für die Übernachtung geht es nach Muralto bei Locarno. In der Villa Novecento hat Susan Engelhard ein Kleinod mit sechs schlichten Zimmern geschaffen. Bei ihr nächtigt man in einem über hundertjährigen Haus, das von einem wildromantischen Garten umgeben ist. Engelhard verbrachte einst selbst ihre Ferien hier. Als die damaligen Besitzer ans Aufhören dachten, zögerte die Zürcherin nicht lange und kaufte zusammen mit ihrem Mann den Betrieb. In diesem Jahr feiern sie ihr Zehn-Jahr-Jubiläum und organisieren darum spezielle Veranstaltungen für Gäste und Freunde. Engelhard ist es wichtig, ihr Hotel weitestgehend nachhaltig zu führen. «Von den Sonnenkollektoren auf dem Dach über sorgfältige Abfalltrennung bis zum klimaschonenden Putzmittel. Wir suchen überall nach Optimierungen.» Beim Frühstücksbuffet kommen, soweit es geht, lokale Produkte auf den Tisch. Der Honig stammt aus dem Onsernonetal, der Geissenfrischkäse aus dem Maggiatal, und die Konfitüre stellt die Gastgeberin mit Früchten aus ihrem Bio-Garten selbst her. Der Entschleunigung zuliebe gibt es weder Fernseher noch WLAN in den Zimmern.
«Nachhaltigkeit ist mir wichtig. Von Sonnenkollektoren über klimaschonendes Putzmittel bis zu möglichst lokalen Produkten.» Susan Engelhard
Um das wilde Tessin zu entdecken, bietet sich am Sonntag eine Kräuterexkursion mit Erica Bänziger an. Normalerweise starten die Touren in Cavigliano, das von Locarno aus in zwanzig Minuten mit der Centovalli-Bahn zu erreichen ist. Auf Anfrage sind aber auch andere Ausgangspunkte möglich. Die Ernährungsberaterin und Kochbuchautorin führt ihre Gäste auf der Suche nach essbaren Kräutern und anderen Pflanzen an Waldränder, Flussbette und über Wiesen. «Dort, wo die Natur etwas puffig ausschaut, gibt es oft am meisten zu finden», erklärt Bänziger. Eine Besonderheit im Tessin ist der Weinberg-Lauch, eine Art Zwiebel, die in der Nähe von Reben wächst. Erica Bänziger mag diesen am liebsten ganz kurz in Olivenöl angebraten. Am Ende jeder Exkursion gibt es ein Kräuterpicknick, bei dem die gesammelten Kräuter in Salaten oder als Pesto probiert werden. Dazu reicht Bänziger Alpkäse, Brot und Wein und verrät den Gästen auf Wunsch weitere Tipps fürs Tessin – wie die Spaziergänge und Trekkings mit ihren Eseln.
Einen entspannten Sonntag verbringt man auch im Kamelienpark in Locarno. Dank den verschiedenen Sorten blühen die Kamelien während neun Monaten. Oder wieso nicht wieder mal Minigolf spielen? Unter Schatten spendenden Palmen findet sich in Ascona eine der schönsten Anlagen der Schweiz. Mit einem Glas kühlen Chinotto in der Hand, lassen sich wunderbar einige Runden drehen. Freddy Graf, der den Betrieb seit dreissig Jahren führt, ist passionierter Gärtner und erzählt stolz, dass man seine Anlage einst als Kulisse für ein Modeshooting gebucht hat. Und somit enden wir, wo wir begonnen haben. An einem Ort wie aus dem Bilderbuch.