Normalerweise ist Eisklettern nur etwas für Hartgesottene: Um zu einem gefrorenen Wasserfall zu gelangen, muss man sich erst viele Höhenmeter durch unwegsames, steiles Tiefschneegelände kämpfen. Denn die meisten Eisfälle warten abgelegen irgendwo auf der unwirtlichen Schattenseite eines Tales.
Wenn man dann endlich beim eisigen Objekt der Begierde ankommt, ist man durchgeschwitzt. Trotz Minustemperaturen. Trotz atmungsaktiver Funktionskleidung. Entweder zieht man sich dann schnell bis auf die nackte Haut aus, um in die trockene Ersatzwäsche zu wechseln. Was in der Kälte sehr grosse Überwindung kostet. Oder man steigt feucht in den Eisfall ein – und friert für den Rest des Tages.
Deutlich bequemer geht Eisklettern in Pontresina GR. Da warten die Eisfälle mitten im Dorf. In der Schlucht, wo im Sommer der Berninabach rauscht, reiht sich jetzt im Winter ein mächtiger Eiszapfen an den nächsten. Einer schöner als der andere. Alle zwischen zwanzig und vierzig Meter hoch. Einige sind überhängend und den Profis vorbehalten. Andere aber einfach – und unter professioneller Anleitung auch für Neulinge geeignet.
Es ist früher Morgen, als ich Bergführer Marcel Schenk, 33, im Büro der Bergsteigerschule Pontresina an der Dorfstrasse treffe. Von hier spazieren wir in fünf Minuten zur historischen Fussgängerbrücke Punt Ota, wo das Abenteuer beginnt: nämlich mit dem Abseilen in die Schlucht. Bevor wir dieses Manöver starten, montieren wir Klettergurt, Helm und Steigeisen. Nehmen die speziellen, ergonomisch geformten Eispickel zur Hand. Marcel Schenk hat an seinem Klettergurt ein ganzes Arsenal an Eisschrauben und Karabinern hängen. Dann lässt er mich am Seil in die Schlucht hinab.
Unten mache ich grosse Augen. Das eisverhangene Ambiente ist gewaltig. Ich habe das Gefühl,in einer wilden, abgeschiedenen Welt fernab jeglicher Zivilisation gelandet zu sein – dabei sind wir mitten in Pontresina!
Natascha Knecht am Eisklettern
Als Erstes baut Marcel Schenk einen Parcours, um mich mit der Technik des Eiskletterns vertraut zu machen. «Am wichtigsten sind die Füsse», sagt er. «Wenn du im steilen Eis nicht richtig stehst, gleichst du alles mit den Armen aus, was sehr anstrengend wird.» Er zeigt mir, wie ich die Balance halten kann, um nicht wie ein Kartoffelsack im Seil zu hängen.
Dann geht es endlich aufwärts. Marcel klettert vor, setzt alle paar Meter eine Eisschraube für die Zwischensicherung. Bei allen Routen in der Schlucht sind oben Standplätze eingerichtet, was das Abseilen erleichtert. Nachdem er zurück ist, kann ich nachsteigen. Ich bin am Seil von oben und unten von Marcel gesichert. Stürzen kann ich nicht.
Anders als viele annehmen, sind gefrorene Wasserfälle keine spiegelglatten Platten, sondern kunstvoll gewachsene Formationen, ähnlich wie Wachs, das über die Kerze geronnen ist. Die Struktur des Eises ähnelt einem riesigen Blumenkohl – es hat Löcher, Fugen, Kerben, Rillen. Marcel Schenk rät mir, diese zu nutzen. So kann ich meine Kraft schonen. Schnell merke ich, dass Eis zwar eine harte, aber gleichzeitig fragile Materie ist. Schlägt man mit den Pickeln zu hart, splittert es weg. Auch die Frontzacken der Steigeisen muss ich mit Feingefühl ins Eis treten, damit sie bei der Belastung halten.
Eisklettern in der Schlucht von Pontresina
«Im Schnupperkurs ist das Risiko gleich null. Wir Bergführer sorgen für alles»
Marcel Schenk, Bergsteigerschule Pontresina
Während ich mich Zug um Zug die eisige Vertikale emporarbeite, bewege ich mich ähnlich wie eine Raupe. Platziere die Füsse auf gleicher Höhe breitbeinig nebeneinander, strecke mich, um die Eispickel weiter oben einzuhauen, ziehe die Füsse nach, platziere mich wieder breitbeinig – und so fort. Es ist anstrengend, ich schnaufe, keuche, ächze. Gelegentlich rutscht mir ein Fuss weg, was mir vor Schreck den Puls hochtreibt. Einmal habe ich den Pickel so fest eingeschlagen, dass ich ihn kaum mehr aus dem Eis bringe.
Etwa die Hälfte der gefrorenen Wasserfälle in der Pontresiner Schlucht wächst auf natürliche Weise. Bei der anderen Hälfte helfen engagierte lokale Bergführer nach, indem sie von oben mit einem ausgeklügelten System Wasser beisteuern, um eine optimale Eisdichte zu erreichen. Ob von Natur oder von Menschenhand geschaffen: Ein Unterschied ist bei den Eiswänden und Eissäulen nicht auszumachen. Weder optisch noch beim Klettern.
Am liebsten würde ich den ganzen Tag weiterklettern. Doch nach einigen Routen spüre ich ein Brennen in den Waden, und in den Unterarmen pumpt es wie verrückt. Ich kann die Pickel kaum noch halten – ein Zeichen, dass es Zeit wird, an die Wärme zu kommen. Wir packen die Sachen zusammen, klettern zur Brücke, spazieren fünf Minuten zurück ins Dorfzentrum und gehen einen verdienten Happen essen.