Mit ein paar wochen mehr hat er schon gerechnet. Genau einen Monat und 11 Tage lang ist Simon Ehammer, 20, ab dem 9. August 2020 Inhaber der Jahres-Weltbestleistung im Zehnkampf. Dann entthront ihn der Franzose Axel Hubert um 29 Punkte. «Auf Wiedersehen, Weltranglisten-Spitze! Aber es war doch cool, einmal zuoberst gestanden zu haben.» Ehammer nimmts mit Humor, auch wenn er
eigentlich erst auf das Wochenende des 18./19. Dezember dieses Jahres das Ende seiner Regentschaft erwartet hatte. An diesem Datum, war er sich sicher, würden seine 8231 Punkte zur Makulatur in den 2020er-Rekordbüchern und durch eine Marke ersetzt, die in anderen Sphären liegt. Ehammer hält seine Hände mit grossem Abstand über-einander und zeigt, wie viel die Differenz dann mit aller Wahrscheinlichkeit zwischen seiner Bestleistung und der neuen Jahresbestmarke liegen wird. Der Appenzeller aus Stein AR lacht: «Die Marke von Hubert und meine 8231 Punkte sind für Kevin höchstens ein Zwischenstand vor dem Ende des Wettkampfs.»
Kevin — das ist der französische Welt-rekordler Mayer und für Simon Ehammer die Marke, an der er sich orientiert. Mayer wird im Dezember auf der französischen Insel La Réunion einen Zehnkampf bestreiten, der eigentlich nur dazu auf die Beine gestellt wird, dem aktuellen König der Leichtathletik die frühzeitige Olympiaqualifikation und damit einen Formaufbau in aller Ruhe auf die Spiele von Tokio Ende Juli des kommenden Jahres zu ermöglichen. 9126 Punkte wie beim Weltrekord vom September 2018 wird Mayer inmitten des Indischen Ozeans nicht erzielen. Zu diesem Zeitpunkt des Jahres ist der Trainingsstand der Athleten nicht auf Spitzenwerte ausgerichtet. Doch das Potenzial Mayers ist jederzeit Resultate jenseits der 8500-Punkte-Marke wert. «Wenn Kevin derzeit irgendwo an den Start geht, gewinnt er», ist Simon Ehammer überzeugt. Für ihn selbst ist die Zehnkampfsaison vorbei, an eine Verteidigung des Bestwerts im direkten Vergleich mit dem Superstar hätte er auch ohne Axel Hubert nicht gedacht: «Eine Einladung an Kevins Meeting auf La Réunion wäre sicher eine Ehre. Aber es wäre sportlich sinnlos, denn ich müsste noch einmal einen Formaufbau betreiben, der nicht in meine Planung passt.»
Ebenso wenig in die Pläne des Simon Ehammer passt indessen, vor dem Leistungsniveau der Topathleten um Mayer in Ehrfurcht zu erstarren. Auf gänzlich unschweizerische Art definiert der Sportler aus dem kleinen Halbkanton seine Grenzen so: «Wenn die Wettkampfverhältnisse stimmen, ist der mehr als dreissig Jahre alte Schweizer Rekord Beat Gähwilers von 8244 Punkten für mich schon jetzt ein Muss. Und weil insbesondere in den Wurfdisziplinen und auf der 1500-m-Strecke noch sehr viel Potenzial brachliegt, muss ich in ganz anderen Dimensionen denken.» Ehammer spricht ohne jeden Anflug von Ironie, aber auch ohne die leiseste Spur von Überheblichkeit, wenn er nachschickt: «Klar sind die 9000 Punkte noch Lichtjahre entfernt. Aber ich orientiere mich trotzdem daran. Die letzten Weltrekorde wurden stets von Athleten im Alter von 28 Jahren erzielt. Ich bin erst 20, meine beste Zeit ist noch längst nicht gekommen.»
”Klar, 9000 Punkte sind noch Lichtjahre entfernt. Aber ich orientiere mich schon mal daran“
Wie viel Realität hinter solchen Worten steckt, beweist der Leistungsvergleich des Appenzellers mit österreichischen Wurzeln väterlicherseits und Kevin Mayer in den einzelnen Disziplinen. Bei vier der zehn Sparten ist Ehammers persönliche Bestleistung stärker als jene Mayers bei dessen Weltrekord (siehe Grafik rechts). Es sind die kurzen Laufstrecken sowie der Weitsprung, beim Hochsprung liegen sie auf gleicher Höhe. Gleichzeitig wird deutlich, welches Manko der Schweizer aber auch noch aufzuholen hat in den Wurfdisziplinen, dem Stabsprung und auf der Mittelstrecke. Wobei interessant ist, dass die beiden Athleten körperlich sehr ähnliche Dimensionen aufweisen, ungefähr gleich gross und gleich schwer sind. Daraus lässt sich wohl ableiten, dass Simon Ehammer von keinerlei körperlichen Voraussetzungen zurückgebunden wird, sondern dass es eine reine Frage des Trainings, der Reife und der Erfahrung ist, bis er sich mehr oder weniger auf dem Niveau der Weltbesten befindet. Und natürlich der Intensität, mit der sich Ehammer dem Sport widmet: Noch arbeitet er zu 60 bis 80 Prozent in Appenzell auf dem erlernten Beruf als Sportartikelverkäufer. Und auch nach der Sportler-RS, die er in diesen Tagen antritt und ihm ein halbes Jahr im Profi-Modus erlaubt, will er weiter neben dem Sport berufstätig sein: «Ich kann mir ein reines Profileben schwer vorstellen. Tagein, tagaus einzig vom Leistungszwang gesteuert werden will ich nicht. Die Arbeit gibt mir Struktur im Leben und hilft, die Bodenhaftung nicht zu verlieren.»
Dass die Entwicklung dennoch weiter in die richtige Richtung geht, dafür gibt Simon Ehammer sein Trainingsumfeld abseits der grossen Schweizer Leichtathletikzentren Gewähr. Nachdem er ursprünglich Fussballer war, wurde er im Teenager-Alter für die Leichtathletik entdeckt und angeworben. Der Herisauer Trainer Beat Schluep war von Simons Sprintfähigkeiten beeindruckt, die er bei Jugend-Wettläufen an den Tag legte. Schnell wurde die Vielseitigkeit des Talents offensichtlich, so dass Ehammer früh mit dem Mehrkampftraining begann, statt sich wie die meisten Alterskollegen auf einen Paradebereich zu konzentrieren. Im Sekundarschulalter wechselte der Steiner nach Teufen an die Sportlerschule Appenzell, einen Zusammenschluss mehrerer Ausserrhoder Standorte mit sportfreundlichen Schul- und Lehrstrukturen. Das pionierhafte Projekt im kleinen Kanton kann einige Erfolge ausweisen. So legte es etwa die Basis für die NHL-Eishockeykarriere Timo Meiers oder förderte die Schwingkarriere von Michael Bless.
Seit der Juniorenzeit wird Simon Ehammer beim TV Teufen und in den Wettkämpfen von Klubtrainer Karl Wyler betreut, bei den Trainings am Schulstandort Herisau von dessen Bruder René. Später kam an der Sportlerschule der einstige Spitzenweitspringer Yves Zellweger als Spezialist für Sprintschnelligkeit und Sprungtechnik dazu. «Mit diesem Team», ist Ehammer überzeugt, «bin ich optimal aufgestellt. Nirgends sonst würde man das Training so gezielt auf mich ausrichten. Deshalb habe ich den diversen US-Colleges, die mir
ein Sport-Stipendium angeboten haben, abgesagt. Sie könnten mir nicht mehr bieten.»
Das Team ist sich mit Simon einig darüber, dass vorderhand der Zehnkampf die Ziel-richtung Ehammers bleiben soll, obwohl er in einer der Einzeldisziplinen ebenfalls bei der Weltelite anklopft: Im Weitsprung hat der Ostschweizer diese Saison schon drei Mal die magische Achtmetergrenze überquert und kratzte im Juni in Schaffhausen mit 8 Meter 15 am ebenfalls fast 20-jährigen Schweizer Rekord von Julien Fivaz (8,27 m). Seine Konstanz auf hohem Niveau würde Ehammer durchaus Startgelegenheiten bei den lukra-tiven Diamond-League-Meetings ermöglichen. Weshalb sich nicht darauf speziali-sieren? «Es ist noch zu früh. Vielleicht später einmal», sagt er. «Und der Reiz, vor grosser TV-Präsenz Wettkämpfe mit den Besten zu bestreiten, steht in Konkurrenz zum grösseren Reiseaufwand und der Notwendigkeit, dafür in meiner Herzdisziplin Zehnkampf zurückzustecken.»
Diese Herzensangelegenheit lässt sich leicht nachvollziehen, wenn einer mit 18 Jahren in der Königssparte der Leichtathletik an der U20-WM in Finnland Bronze holt und ein Jahr darauf zum U20-Europameister gekürt wird. Gleichwohl richtet Simon Ehammer seinen Fokus auch auf die weiten Sätze in die Sandgruben. «Den Schweizer Rekord habe ich auch im Weitsprung im Visier.» Doch die Zehnkampf-Bestmarke und auch die 8,27 m im Weitsprung kann er frühestens nächste Saison knacken. «So ein Satz quasi quer über drei geparkte Autos hinweg, das ist schon cool!» Dabei hat er als Mass den neuen BMW-Kombi vor Augen, den ihm sein Sponsor in Appenzell in Anerkennung der heurigen Leistungen zur Verfügung stellt. Und nicht etwa den Mini, den Ehammer zuvor fuhr. Auch das ein Symbol für den rasanten Aufstieg des Schweizers mit einem Tattoo des Tiroler Adlers unter den Achseln.
Dass sich Simon Ehammer nun als Zehnkämpfer an der Schwelle zur Weltklasse befindet, verdankt er auch der Entwicklung seiner Persönlichkeit. Konnte er als Jugendlicher mit Misserfolgen kaum umgehen und brachte sich dadurch oft genug in einen Negativstrudel, hat er nun verinnerlicht, sich nach einer weniger geglückten Disziplin jeweils bewusst einen kurzen Moment des Frusts zu gönnen und dann sofort frei von negativen Gedanken auf den nächsten Start zu fokussieren. «Ich bin heute auf dem Wettkampfplatz viel gelassener. Zwischen zwei Disziplinen esse ich auch mal genüsslich einen Cervelat. In unserer Sparte kann man seine Gegner auch auf diese Art beeindrucken.» An der notwendigen Coolness mangelt es dem Appenzeller ohnehin nicht: Bevor er vergangenes Jahr an die U20-EM nach Boras in Schweden abreiste, verabschiedete er sich bei seiner Chefin im Sportgeschäft mit den Worten: «Wir sehen uns vor meinen Ferien noch. Ich komme nach der EM rasch vorbei, um euch die Goldmedaille zu zeigen.»
Und nun formuliert Ehammer erneut unzweideutige Ziele: «Keine Frage, ich will eine Medaille bei Olympia 2024 in Paris. Und weil ich dann erst 24 bin, könnte ich 2028 in Los Angeles nachdoppeln.» Welcher Farbe die Medaillen sein sollen, deutet der beste Schweizer Zehnkämpfer mit einem Blick in die Geschichtsbücher und einem entwaffnenden Lachen an: «Es gab bisher drei Zehnkämpfer, die zwei Mal Olympiasieger wurden. Ich wäre gern der vierte.» So geht gesundes Selbstvertrauen.
”Die US-Colleges könnten mir nicht mehr bieten, als es mein Umfeld hier tut”