kaum zu glauben: Sina Frei war früher nicht unbedingt ein Wettkampftyp. Schwer nachvollziehbar ist das deshalb, weil sie an internationalen Nachwuchs-Meisterschaften eine Schurter’sche Konstanz an den Tag legte: zwölf Rennen, elf Mal auf dem Treppchen. Bis sie 2019 zur Elite wechselt, ist Frei sechs Jahre lang die junge Frau, die es zu schlagen gilt. Doch als sie ein Kind war, drückte die Seriensiegerin in ihr noch nicht durch. Da fühlte sie sich am Start eines Rennens nervös und unsicher. Fragte ihre Eltern am Abend davor: «Zwölf Kilometer. Schaffe ich das überhaupt?»
Diese Zweifel sind für uns heute zum Schmunzeln und für die Zürcherin längst verflogen, Frei ist etabliert und selbstbewusst. Eine natürliche Bescheidenheit ist dem Supertalent aber geblieben. «Ein Geheimrezept habe ich nicht», sagt die 23-Jährige lachend. Sie habe eben immer wieder etwas mitnehmen und lernen können, wenn ein Rennen einmal nicht so gut lief. Sehr oft kam das nicht vor, aber wenn, war der Lerneffekt nachhaltig. So etwa an jener einzigen WM, in der sie das Podest verpasst. Das ist 2015 in Andorra auf über 2000 m ü. M. Frei ist ein wenig erkältet, kann wegen eines Material-Problems nicht exakt ihr gewohntes Bike fahren, worauf ihre Welt «schon fast einstürzte», wie sie sich erinnert. Am Rennen bricht auch noch der Sattel – dennoch wird sie Neunte. Daraufhin nimmt sie sich vor, sich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen, wenn die Vorbereitung nicht optimal läuft. Zwei Jahre später stürzt sie vor der WM, kann sich vor steifen Muskeln kaum bewegen — und wird zum ersten Mal U23-Weltmeisterin. Lektion gelernt. «Nie aufgeben, nach vorne schauen» ist heute ihr Motto. Ihre damalige Schwäche ist heute eine Stärke. «Ich bin eine sehr positiv eingestellte Athletin. Ich grüble nicht, kann Dinge wegstecken und das Gute daraus ziehen.»
Das tut sie auch, wenn sie immer wieder auf ihre Grösse von 1 Meter 51 angesprochen wird. «Der Vorteil ist, dass die anderen nicht so viel Windschatten haben», sagt sie verschmitzt. Im Mountainbikesport ist die Grösse nicht so relevant wie auf der Strasse. Die meisten Strecken haben keine langen flachen Passagen, wo die absoluten Wattzahlen – also die Kraft, die man aufs Pedal bringt – entscheidend wären. Fürs Training ist Frei aber oft auf dem Rennvelo. Ihr Wohnort Uetikon am Zürichsee ist ein hervorragendes Rennrad-Gebiet, gibt aber biketechnisch nur begrenzt etwas her. Seit ein paar Jahren besitzt die Familie nun eine Ferienwohnung in Lantsch bei Lenzerheide, wo sich Frei auf dem Bike austoben kann. Zudem trainiert sie oft und gern in Davos. Auch während der wettkampffreien Coronazeit im Frühling flüchtete sie vor den Massen in den Zürcher Wäldern ins Bündnerland, wo sie Trails entdeckte, für die sie normalerweise gar keine Zeit hätte. «Ich habe es als geschenkte Zeit betrachtet und hatte wahnsinnig viel Spass auf dem Velo», so Frei.
Neben der Technik arbeitete sie an ihrer Koordination: auf der Slackline, dem Einrad, dem Wackelbrett. Oder sie beteiligte sich an den Geschicklichkeitsübungen, die auf Instagram unter den Sportlern geteilt wurden. Zum Beispiel: verschiedene Gegenstände stapeln, wobei man mit dem Vorderrad des Bikes jeweils den obersten abräumen muss, dann den nächsten und so weiter. Frei könnte sich stundenlang so beschäftigen. «Das Spielerische auf dem Velo ist mir extrem wichtig. Ich versuche, das jede Woche einzubauen.»
”Das spielerische ist mir auf dem Velo extrem wichtig. ich baue das oft ein“
Als Kind tanzt sie Ballett und Jazz, spielt Fussball. Eine Leidenschaft fürs Mountainbike entwickelt sie erst, als ihr älterer Bruder den Vater in eine Velowoche nach Spanien begleiten darf und sie daheim bleiben muss, weil sie noch nicht biken kann. Die Ferien im Ausland sind für sie als Zwölfjährige Anreiz genug, doch bald lachen sie die Medaillen an. «Sina war immer sehr zielstrebig», sagt Edi Telser, der Schweizer Frauen-Nationaltrainer, der seit dem ersten Juniorinnenjahr mit ihr arbeitet. «Der grosse Unterschied: Damals wollte sie alles mit der Brechstange erzwingen. Sie wollte jede Minute nur trainieren, trainieren, trainieren. Heute kann sie es besser einordnen.»
Sina Frei ist ein Paradebeispiel für die Mountainbike-Ausbildung beim Verband Swiss Cycling. Denn was heute normal ist — dass die Schweizerinnen immer ganz vorn mitkämpfen — ist auch in einem Land mit Tradition in der Sportart und gut ausgebauter Bike-Infrastruktur kein Selbstläufer. Es gab früher Junioren-Weltmeisterinnen, die später in der Versenkung verschwanden, das Amt des Frauen-Nationaltrainers war ein 20-Prozent-Pensum. Dann kamen Ausnahmeathletinnen wie Jolanda Neff. «Der Verband hat das richtig gesehen und Ressourcen geschaffen, damit wir auf demselben Level arbeiten können wie die Männer», sagt Telser, der Vollzeit angestellt ist. So entsteht die Möglichkeit, auf allen Ebenen kontinuierlich weiterzu-arbeiten, so dass aus Talenten Weltklasse-fahrerinnen werden. Dazu wurden bei den Juniorinnen disziplinenübergreifende Kader gebildet: Alle Fahrerinnen erhalten auch eine Ausbildung auf der Bahn und der Strasse. Was sie dort taktisch und technisch lernen, können sie auch im Mountainbike wieder umsetzen, zumal die Cross-Country-Rennen immer schneller werden. Gewöhnt man sich nicht schon im Jugendalter an Strassen-rennen, ist der Lerneffekt und damit der Nutzen später nicht mehr so gross.
In den vergangenen Jahren war Sina Frei die junge Fahrerin im Hintergrund, die mit ihren Leistungen in den U-Kategorien Druck auf die erfahreneren Athletinnen aufbaute. Nun schlüpft sie in eine neue Rolle, «die sie noch definieren muss», so Telser. In ihrer ersten Saison in der Elite 2019 fährt sie gleich dreimal auf Rang vier, im MTB gleichbedeutend mit einem Podium, belegt im Gesamt-Weltcup den starken siebten Platz. 2020 wird sie WM-Vierte. Charakterlich ist sie sicher weniger dominant oder extrovertiert als Neff, doch mit ihrem starken Willen, ihrer Leidensfähigkeit und den Leistungen übernimmt sie automatisch auch eine Leaderrolle im Team. «In den Rennen schenken wir uns nichts, aber daneben verstehen wir uns sehr, sehr gut. Die Stimmung ist super, und es ist eine hohe Akzeptanz da», sagt Frei.
Als ehrgeizige Athletin sieht sie die hohe Leistungsdichte positiv. Nur einen Haken kann sie ausmachen: «Das Schweizer Meistertrikot holst du nicht so schnell – es ist schon fast ein Weltmeistertrikot.»