Sie hat ihr Training gerade hinter sich und bestellt in der Cafeteria einen Cappuccino. «In den meisten Kletterhallen findet man guten Kaffee», erklärt Petra Klingler. Irgendwie ist in der Szene eine Affinität zu diesem Getränk besonders verbreitet. Die 27-jährige Profikletterin wohnt in Bern, nimmt aber regelmässig den Weg nach Zürich oder gar St. Gallen auf sich, um Speed zu trainieren. In der Disziplin Bouldern, dem Klettern ohne Seil auf Absprunghöhe, wurde sie 2016 Weltmeisterin. Und sie ist auf dem besten Weg, sich für Tokio 2020 zu qualifizieren, wo Sportklettern erstmals olympisch sein wird.
Der Kaffee wird ihr übrigens vom Hallenchef spendiert. Hier ist sie ein Star, die Amateurkletterer erkennen die Schweizerin und sprechen sie an – oder schauen in schweizerischer Zurückhaltung nur ehrfürchtig zu, wie sie trainiert. Sie selbst scheint hingegen trotz ihrer Erfolge noch nicht recht von ihrem Talent überzeugt zu sein.
«In der Wettkampfsituation gehe ich aber aufs Ganze.»
Dabei waren Sie ja bereits die Allerbeste der Welt!
(Lacht.) Ja, ich sehe aber immer noch Verbesserungspotenzial.
Kennen Sie das Fernsehformat «Ninja Warrior», wo die Kandidaten einen Hindernisparcours durchlaufen müssen? Das müssten Sie locker schaffen!
Ich wurde tatsächlich schon angefragt, sie haben sturmgeläutet bei mir. Leider war das Timing ziemlich schlecht, zwei Wochen vor der WM. Dabei hätte ich es gern mal ausprobiert. Aber ich bin ehrgeizig, bei einem Wettkampf kann ich mich nicht zurückhalten, und die Verletzungsgefahr ist nicht ganz zu unterschätzen.
Beim Bouldern sind Sie ungesichert. Ihr schmerzhaftester Sturz?
Wenn du nicht hochkommst, dann fällst du, das gehört einfach dazu. Im Training überlege ich mir daher zweimal, ob ich bis zum Äussersten gehe, und stoppe eher mal vorher. In der Wettkampfsituation gehe ich aber aufs Ganze. Es gibt unangenehme Stürze, aber man lernt, wie man fallen muss, damit es nicht zu sehr schmerzt. Ich weiss, wann der Aufprall kommt – ohne runterzuschauen.
Style: Wann merkten Sie, dass Sie Talent haben im Klettern?
Petra Klingler: Meine Eltern und meine Grosseltern kletterten ständig in den Bergen und nahmen mich mit. Damals hörte ich schon immer, dass ich sehr gut sei für mein Alter. Ich dachte aber stets für mich, dass sie halt kaum einen Vergleich mit anderen Kindern hatten. Ich bin zwar schnell im Lernen von Bewegungen, habe aber bis jetzt nicht das Gefühl, dass ich die talentierteste Kletterin bin. Das ist einerseits positiv, weil es mich motiviert, mehr zu tun, andererseits ein Nachteil, weil mir so manchmal das Vertrauen in mich fehlt.
Wie hoch ist der Faktor des Intuitiven in Ihrem Sport?
Das ist sehr individuell, bei mir aber ein grosser Teil. Ich schaue die Linie an und mache einen ungefähren Plan, aber wenn ich dann in der Wand bin, verlasse ich mich darauf, dass mein Körper schon weiss, was er machen muss. Ich steige ein und schaue, was passiert.
Gehen Sie andere Dinge im Leben auch so an?
Vieles, was ich im Sport gelernt habe, wende ich auch sonst an. Mit Niederlagen und Scheitern umzugehen etwa. Nicht gleich aufzugeben, dranzubleiben. Es braucht überall viel Aufwand, wenn man sich hohe Ziele setzt. Agil zu bleiben – man kann nicht alles planen und kontrollieren im Leben. Ich habe nie die Motivation verloren bei Verletzungen. Sie gaben mir eher einen zusätzlichen Schub.
Das nennt man wohl mentale Stärke.
Ja, das hat sicher viel mit der Einstellung zu tun, das Positive zu sehen, das Beste draus zu machen. Und die Energie darauf zu lenken, wie man vorwärtskommt. Dabei hilft natürlich auch das Umfeld sehr.
Wer hilft Ihnen da am meisten?
Meine Familie, meine Eltern. Schon immer rief ich als Erstes meine Mutter an, wenn ein Wettkampf nicht gut gelaufen war. Sie half mir dann, das Ganze zu relativieren. Auch Freundinnen von mir können mich mit ganz simplen Aussagen wieder in die Realität zurückbringen. So meinte eine Freundin mal, dass ich doch schon privilegiert sei, weil ich überhaupt am Weltcup mitmachen könne. Das schafften viele trotz hartem Training nie. Sie hat ja auch recht, nicht alle Menschen finden überhaupt eine Leidenschaft, die sie so erfüllt. Das muss ich mir einfach immer wieder selber sagen.
Können Sie vom Sport leben?
Ich habe eine gute Unterstützung von Sponsoren wie Coop Rechtsschutz, Adidas, Red Bull und Klima Kälte Kopp, lebe aber bescheiden in einer Vierer-WG. Ich könnte mit meinem Verdienst nie eine Familie ernähren. Aber ich kann alles nach dem Sport richten und neunzig Prozent meiner Zeit da investieren. Neuerdings arbeite ich zwanzig Prozent bei der Sporthilfe. Ich brauche die Herausforderung, noch etwas anderes zu machen. Und so kann ich dem Sportgeschehen in der Schweiz etwas zurückgeben.
Sie studierten Sport und Psychologie. Was sind diesbezüglich Ihre Ziele?
Ich möchte unbedingt mit Menschen zusammenarbeiten, vielleicht mit jungen Sportlern. In sie kann ich mich einfühlen und ihnen etwas mitgeben. Hätte ich nicht so gute Leute um mich gehabt, hätte ich es nie so weit gebracht.
«Ich habe gelernt, dass vieles im Leben auf Geben und Nehmen beruht.»
Wie meinen Sie das?
Ich bin langsam im schulischen Lernen und hatte als Kind nicht so gute Noten. Da forderte die Schulleitung, dass ich im Sport zurückstecken sollte. Meine Eltern und meine Lehrer machten sich stark dafür, dass man mir stattdessen mehr Zeit einräumte, zum Beispiel füs Erledigen der Hausaufgaben. Dafür habe ich mich dann wirklich ins Zeug gelegt. Ich habe gelernt, dass vieles im Leben auf Geben und Nehmen beruht.
Sie haben einen starken Körper. Aber auch eine verletzliche Seite?
Ja, das ist sicher so. Schlechte Schulnoten haben mich sehr mitgenommen, auf einen misslungenen Wettkampf reagiere ich emotional. Ich bin wohl aussen hart, aber innen weich (lacht).
«Ich bin keine Naschkatze»
Müssen Sie einen bestimmten Ernährungsplan einhalten?
Wir müssen unser eigenes Gewicht hochtragen. Aber es ist eine Gratwanderung, denn wir brauchen ja auch genug Kraft. Ich habe das Glück, dass ich gesunde Sachen gernhabe und keine Naschkatze bin. Ich versuche, mit der Ernährung das Training zu unterstützen. Dazu gehört auch, auf den richtigen Zeitpunkt des Essens zu achten.
Kochen Sie?
Ich liebe das Kochen und Backen! Oft gehe ich über Mittag nach Hause und mache mir etwas Frisches, zum Beispiel eine Suppe, da kann man ganz viele Nährstoffe reinpacken, oder Ofengemüse. Omelette mit Gemüse habe ich entdeckt, die mache ich in Muffinformen. Für Gäste lege ich mich schon mehr ins Zeug, mache Pasta selber oder Filet im Teig mit Pilzsauce.
Ihre Hobbys?
Im Winter schaue ich gern Filme und Serien. Im Sommer bin ich oft an der Aare, gehe schwimmen oder bööteln. Ich versuche, so viel Zeit wie möglich mit Freunden zu verbringen. Der soziale Austausch ist mir sehr wichtig. Nächstes Wochenende gehe ich mit Freundinnen an den Survival Run. Da geht es rein um Spass. Wir machen nur die Light-Variante, dann kann sogar ich es locker angehen. Mich kann man für fast alles gewinnen.
Machen Sie je Ferien, ohne zu klettern?
Nein, ich plane meine Ferien nach guten Kletterlocations, zum Beispiel in Griechenland. Es gibt ja auch so viele davon, auf der ganzen Welt.
Wie viel Mut braucht es, eine Linie zu wählen, die man noch nie geklettert ist?
Für mich gibt es nichts Normaleres.
Abseits der Wand: Wie mutig sind Sie?
Ich bin sicher keine ängstliche Person, aber ich mache nichts Verrücktes, bei dem ich mich verletzen könnte. Als Kind war ich ein richtiger Rowdy, wollte immer an die Grenzen gehen, hatte fünf Löcher im Kopf. Jetzt kann ich meine Energie im Sport ablassen.
Wann sind Sie am glücklichsten?
Im Frühling.