Das Matterhorn ragt wie ein gewaltiger Mahnfinger in den wolkenlosen Himmel. Die schroffen Felsen scheinen übermütige Wanderer vor den Unwägbarkeiten der Bergwelt zu warnen. Das Sonnenlicht wird vom ewigen Schnee zu einem gleissenden Spektakel veredelt. Das ewige Eis des Gornergletschers leuchtet in mystischem Blau. An nur wenigen Orten in der Schweiz verbindet sich die raue Schönheit der Alpen mit den Ansprüchen des Tourismus so intensiv wie am Fuss des schönsten Berges.
Es ist die Welt von Samuel Anthamatten. Schritt für Schritt bahnt sich der 33-jährige Bergführer und Freerider den Weg hinauf von der Stafelalp zum Hirli-Grat. Atemzug für Atemzug. Meter um Meter. Eine Wollmütze schützt ihn vor dem kühlen Wind, die Sonnenbrille vor dem intensiven Licht. Seine Ski ragen aus dem Rucksack über die Schultern. Bei jeder Bewegung wippen sie gemächlich hin und her. Seine sportliche Erfüllung findet Samuel in den oft wilden Abfahrten. Doch der Aufstieg ist quasi die Basis seines spektakulären Tuns: «Der Körper wärmt sich natürlich auf und wird an die Höchstleistungen herangeführt.» Noch wichtiger aber sei die mentale und technische Vorbereitung: «Beim Hochsteigen spürt man, wie viel Schnee liegt und ob die Unterlage fest und das Eis kompakt ist, ob die Steine brüchig sind.» Für Samuel Anthamatten ist jeder Freeride ein Prozess, der sich dann optimal umsetzen lässt, wenn man den Berg zuvor mit eigener Muskelkraft erklommen hat: «Wer sicher ins Tal kommen will, muss sich intensiv mit der Natur auseinandersetzen und alle Sinne schärfen.»
Samuel ist der jüngste von drei Brüdern, die sich allesamt mit letzter Konsequenz dem Bergsport verschrieben haben: Simon (36), der Erstgeborene, gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Extrembergsteigern. 2008 gelang ihm zusammen mit Ueli Steck die Erstbesteigung der Tengkampoche-Nordwand in Nepal. Martin (35), der Mittlere, ist einer der führenden Skibergsteiger Europas. In dieser Sportart gewann er 2008 die WM-Silbermedaille. 2010 triumphierte er mit Florent Troillet und Yannick Ecoeur in der mythenumrankten Patrouille des Glaciers von Zermatt nach Verbier über 53 Kilometer und 4000 Höhenmeter. Der damals aufgestellte Streckenrekord (5:52:20) wurde erst 2018 gebrochen. Im Trailrunning hält Martin den Weltrekord über 3000 Höhenmeter. Nicht mit ihren Brüdern messen mag sich die jüngere Schwester Marillia (31). «Sie ist die einzig Normale in der Familie – und fühlt sich damit sehr wohl», sagt Samuel augenzwinkernd.
Die Anthamattens haben die ganze Welt bereist und kennen die spektakulärsten Gebirgszüge auf allen Kontinenten. Und doch sind sie ihrer Heimat Zermatt immer treu geblieben. «Wenn ich hier bin, fühle ich mich daheim», sagt Samuel, «hier kenne ich praktisch jeden Felsbrocken und weiss exakt, wo und wann die besten Abfahrten möglich sind.» In seine Aussage schliesst er das ganze Wallis mit ein: «In den meisten Skiregionen gibt es einen Berg als Anziehungspunkt für Freerider – aber hier im Wallis mit 45 Gipfeln über 4000 Metern Höhe haben wir schier unzählige Möglichkeiten.» Deshalb will und kann sich Anthamatten nicht auf ein Lieblingsgebiet oder eine bevorzugte Abfahrt festlegen: «Wir entscheiden uns jeweils am Vorabend, wo wir fahren, und orientieren uns an Gelände und Bedingungen, die für Dynamik, Geschwindigkeit und Sprünge optimal sind.» Dabei gelte ein einfaches Prinzip: «Wir gehen dem guten Schnee und dem guten Wetter nach und wollen dort in die Hänge steigen, wo wir am sichersten und am besten die meisten guten Schwünge platzieren können.»
Gleichzeitig gibt es ein klares Limit, das nicht überschritten wird. Anthamatten erklärt: «Die eine Grenze betrifft den Berg und die topografischen Begebenheiten. Diese verschiebt sich mit zunehmender Erfahrung und wachsendem Können gegen oben.» Die andere Grenze dagegen lässt keinen Ermessensspielraum: «Bei Lawinengefahr haben wir im Gelände nichts zu suchen. Hier gibt es nur ein Prinzip: Die Sicherheit kommt immer zuerst.» Sein Bruder Simon lebt diesen Gedanken mittlerweile hauptberuflich in luftiger Höhe – als Helikopterpilot bei der Air Zermatt.
Samuel Anthamatten empfindet es als «traurig», dass die alpine Gefahrensituation von vielen Menschen ignoriert wird: «Es ist fahrlässig, wenn man ohne adäquate Ausrüstung die gesicherten Pisten verlässt.» Er ist der festen Überzeugung, dass das Mittragen eines Lawinenverschüttetensuchgerätes für jeden Tourenskifahrer oberstes Gebot sein müsste. Diese Technik sei oft die einzige Chance, um einen Lawinenniedergang zu überleben: «Wer vom Schnee verschüttet wird, hat nur noch wenig Zeit. Nach einer Viertelstunde sinkt die Überlebenschance rapid.» Ein gewisses Risiko sei aber auch bei Profis nicht auszuschliessen: «Wenn in den Bergen ein Unfall geschieht, geht es selten glimpflich aus.»
Auch dieses Wissen und der Respekt vor der Natur machen Samuel Anthamatten und seine Brüder zu herausragenden Figuren des Alpinismus. Dass sie es so weit gebracht haben, sei auch ihren Eltern zu verdanken: «Sie haben uns früh in die Natur zum Wandern mitgenommen und uns so den Zugang zur Bergwelt auf spielerische Weise geebnet.» Ihr Anspruch an die Söhne sei stets gewesen: «Macht, was ihr wollt, aber macht es richtig.» Die Anthamattens haben genau zugehört: «Wir sind alle recht fanatisch bei dem, was wir tun», sagt Samuel lachend.
Die Faszination seines Sports liegt für ihn in der Gesamtheit des Erlebnisses in der freien Natur: «Wir steigen sechs Stunden den Berg hoch – um dann für ein paar Minuten runterzufahren.» Die Abfahrt brauche viel Kraft, Energie und Nerven. Man bewege sich in der Bergwand geistig und körperlich im Ausnahmezustand. Doch der Lohn im Tal sei ein schier unbeschreibliches Gefühl: «Wenn man am Fuss des Berges die letzten Schwünge zieht und die Fahrt auslaufen lässt, ist dies absolut befreiend und beglückend.» Man fühle eine Art Schwerelosigkeit. Anthamatten spricht mit Leidenschaft, Enthusiasmus und Überzeugungskraft. Wer ihm zuhört, kann den Schnee fast schon riechen und den Fahrtwind im Gesicht spüren – und er ist sich absolut sicher: Das Glück der Erde liegt an den Hängen der Walliser Berge.