Wikipedia beschreibt die Zitrone folgendermassen: «Immergrüne Bäume bringen länglich-ovale Früchte mit gelber oder grün-gelber Schale hervor. Das saftige, saure Fruchtfleisch enthält [...] Zitronensäure und viel Vitamin C. Aus Zitronen werden Saft, [...] ätherisches Öl und Pektin gewonnen.» In jüngster Zeit ausserdem in erster Linie: Likes.
Beyoncé machte bereits 2016 «Lemonade» und viel viel Geld, als ihr das Leben Zitronen reichte. Mit Hit-Früchten hat sie es ja: 2013 raunte sie in «Drunk In Love» das Wort Watermelon und der Welt lief das Wasser im Mund zusammen. Aber obwohl beide Früchte so verführerisch nach Sommer schmecken, fehlt es der Wassermelone an Potenzial – trotz des vermeintlichen Vorteils aufgrund der knallpinken Färbung. Eine Zitrone kann man auspressen. Da springt was bei raus. Und das lohnt sich vor allem jetzt, in einer Welt, die über Bilder und Träume funktioniert.
Sauer und lustig – sind wir die fleischgewordene Zitrone?
Beim Anblick der Zitrone hört man die Grillen zirpen, man spürt die Hitze auf der Haut, sieht das Meer vor der Küste Siziliens oder Südfrankreichs glitzern. Das sonnengelbe Früchtchen stillt die Sehnsucht nach Ferien und Rast und ist dabei äusserst vielseitig. Sauer macht lustig, heisst es doch. Und vielleicht trägt die Zitrone den Leitsatz moderner Frauen in sich: Ein bisschen sauer muss man schliesslich sein auf die Welt, um sie zu verändern. Damit es wieder lustig sein kann. So wie es einem in den sozialen Medien längst vorgegaukelt wird.
So macht es natürlich absolut Sinn, jede Zitrone, die man so findet, sorgfältig zu arrangieren und zu drapieren. Sie sagt: «Dem Mädchen hinter dem iPhone geht es gut, sie ist im Süden, ganz ohne Lärm, sie ist tiefenentspannt.» Ein Korb voller Zitronen suggeriert, man sei über den Markt geschlendert, hätte mit sizilianischen Nonnas gefeilscht und gescherzt und sei dann wehenden Rockes in die kühle, steinerne Küche zurückgekehrt, um mit einem geeisten Glas Wein in der Hand die attraktive Gang im verwilderten Garten zu bekochen.
Und wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Jacquemus her. So oder so ähnlich muss es gewesen sein, als der Designer aus Südfrankreich seine Hype-Ästhetik auf das Interieur eines Cafés im ersten Stock der Galeries Lafayette in Paris übertragen hat. Schwelgt man sonst in riesigen Strohhüten, kunstvoll drapierten Kleidern und klitzekleinen Täschchen, sitzt man nun im «Citron». Umgeben von Zitronenbäumen blickt man auf die Karte, die ein gezeichnetes Zitrönchen ziert und bestellt provenzalische, bodenständige Herrlichkeiten wie Toast mit hausgemachter Marmelade, mariniertes Gemüse und Sardinen oder Rosmarin- und Pistazienkuchen. Aber Jacquemus' Signature Dish? Dreimal darf geraten werden: Eine Zitrone, aus der Sorbet quillt – erschaffen von Star-Konditor Cédric Grolet. Auch hier serviert uns die Zitrone ein Träumchen – in vermeintlich rustikalem Ambiente, das doch voller Luxus steckt.
Die Amalfiküste immer im, aber nicht am Herzen? Kein Grund zur Sorge, keine Geringere als die Zitrone macht beides möglich. Wem es ausserdem schlicht zu blöd ist, stets ein Kilo Obst zur Inszenierung mit an den Strand zu schleppen, der trägt die Zitrone. Nicht physisch, sondern aufgedruckt. Dank Bikini hat man die einflussreiche Frucht so direkt am Busen. Auch am Ohr, um den Hals und am Fuss baumelt ein kleines Zitrönchen gern wie ein Windspiel in der sanften Meeresbrise.
Ganz zwanglos dinieren, an einer langen Tafel mit weissen, wehenden Laken, ein paar Kerzenständern – inmitten von Zitronenbäumen. Es ist die Utopie vom Landhaus, von der sizilianischen Grossfamilie, die gestikulierend an einem schwülen Sommerabend Pasta teilt. Wohin der Hochzeitstrend geht? Richtig, rein in den Zitronenhain. Da liegen dann vorzugsweise die Zitronen auf den handgetöpferten Tellern und gruppieren sich als Lockstoff ums Buffet. Thront daneben noch eine schneeweisse Porzellanbüste, ist das Szenario perfekt. Und jetzt psst, sonst hört ihr das Rauschen der Blätter ebenso wenig wie das Ja-Wort.