Neulich sass ich gemütlich und mit dem nötigen Sicherheitsabstand im Zug. Da reisst doch der Typ im Viererabteil nebenan einfach seinen Mund auf und … gähnt. So kam, was kommen musste: ein Gähn-Marathon. Ich erwischte ihn beim Gähnen und tat das Gleiche. Er sah wiederum mich und tat es noch mal. Und so weiter … Nach 10 unglaublich langen Minuten konnte ich dann endlich aus dem Zug aussteigen – thank god.
Aber wie konnte mein Körper durch das Verhalten eines anderen so stark beeinflusst werden? Ist ja schon irgendwie beängstigend, wie schnell man die Kontrolle über die eigenen Gesichtsmuskeln verliert.
Wir fühlen (und gähnen) mit, wenn andere fühlen (und gähnen)
Tatsächlich gibt es eine logische Erklärung für die ansteckende Wirkung: das Resonanzphänomen. Dieses wird von Nervenzellen ausgelöst, den sogenannten Spiegelneuronen. Sie bilden die Grundlage für unsere Intuition und Empathie. Wenn wir bei anderen Menschen eine Emotion wahrnehmen, werden diese Zellen aktiviert und verklickern uns einen Gefühlszustand. So können wir die Gefühle anderer widerspiegeln. Deshalb lächeln, weinen und gähnen wir, wenn andere dasselbe tun.
Sobald wir also jemanden beobachten, der ähnliche Verhaltensmuster wie wir aufzeigt, sind unsere Spiegelneuronen im Einsatz. Man reitet wortwörtlich auf einer Wellenlänge und entwickelt dem anderen gegenüber Sympathie. Deshalb gähnen Menschen mit einem starken Mitgefühl auch häufiger.
Vom Mensch zum Tier zum Mensch
Ob meine Zugbegegnung deshalb ein kleiner, von Sympathie getragener Flirt war? Wohl eher nicht. Das Resonanzphänomen ist nämlich bei den meisten Lebewesen angeboren. Deshalb kann man sich auch bei gähnenden Tieren anstecken – nicht sehr sexy, aber niedlich. Wird euer Hund also angegähnt, gähnt er ziemlich sicher zurück und beweist damit einmal mehr sein Einfühlungsvermögen.
Das Gähnen kann also einen sozialen Nutzen haben. Schliesslich muss ich wohl oder übel zugeben: Der Zug-Typ war zwar nicht so meins, aber mir durch den gemeinsam bezwungenen Gähn-Marathon durchaus nicht unsympathisch. Da es ihm wahrscheinlich genauso unangenehm war wie mir, hatte wir kurz eine gewisse Connection – und so rutschte mir beim Aussteigen sogar ein Lächeln von den Lippen. Dass man künftig zur Anmache den Mund aufreisst, will ich mir dennoch nicht vorstellen. Da gähne ich dann doch lieber meine Katze an.