Gerade eben kam eine Pressemitteilung in mein Postfach geflattert. Von einem dänischen Brand, den ich sehr schätze. Ich bin bereits in deren heiligen Hallen gewandelt, habe mit der Kreativdirektorin gesprochen. Ich mag, was die machen. Was ich nicht mag, ist, wenn eine E-Mail mit dem hyper-euphorischen Betreff «Good Vibes Only» reinbrettert. «Die Kollektion schöpft ihre Inspiration aus Optimismus und positiver Energie. Wir haben uns als Ausdruck der Vorfreude auf die bessere Zeit, welche bald kommen wird, für kraftvolle Drucke und kräftige Farben entschieden», heisst es da.
Was ich auf den Bildern sehe, ist ein lethargisches Mädchen in einem Shirt mit Smiley drauf – einem gelben Mondgesicht mit debilem Grinsen, wie es sich schon Justin Bieber für sein Label Drew House zu eigen gemacht hat. Seid doch endlich alle fröhlich, wird gedroht. Justin Bieber hat dafür lang gebraucht. Ich bin skeptisch. Und hey, wer sagt überhaupt, dass ich nicht schon längst zufrieden bin? Dass für mich persönlich der Lockdown keine Krise, sondern Balsam für die Seele ist? Ausserdem: Denen, den es wirklich nicht gut geht, bringt ein ausgelutschter Acid-Spruch, der oft eine ebenso leere Hülle wie sein Stay-Strong-Sprachrohr Instagram ist, überhaupt gar nichts. Wer den sozialen Medien eine positive Einstellung als einzig wahres Konzept abkauft, der scheitert schnell. Wer die dunkle Seite der Macht ausblendet und immer nur stur nach vorne blickt, landet nämlich unter Umständen trotzdem im Loch.
Was soll falsch daran sein, sich aufs Positive zu fokussieren?
Nun soll natürlich niemand aufhören, die Dinge in einem guten Licht zu sehen. Wenn ich Liebeskummer habe und höre, der Typ hätte mich nicht verdient und da käme was Besseres, dann ist das nett. Das Gegenüber will ermutigen oder ist schlicht hilflos. Aber faktisch gesehen ist alles beschissen. Da könnte einem statt «Sei froh, der Typ war ein Arsch» auch mal jemand «Ja, das wird jetzt erstmal richtig ungemütlich. Dass es dir nicht gut geht, ist total ok» sagen. Niemand muss sich schliesslich dafür rechtfertigen, traurig zu sein. Leiden und (ab uns zu ein bisschen) hassen ist menschlich. Uns ist schliesslich allen bewusst, dass unser Gemütszustand keine Konstante ist. Bei manchen mehr, bei manchen weniger. Logisch: Ich fühle mich lieber gut als scheisse. Klar will ich Good Vibes – aber only?
«Die Idee rührt daher, ein Gegenstück zu den Bad Vibes, zu Negativität, Disikriminierung und Hass, die gerade in den sozialen Medien oft Überhand nehmen, bilden zu wollen. In dieser Form ist daran sicher nichts auszusetzen, die Konzentration aufs Positive an sich ist nicht falsch. In meinem Fachgebiet arbeitet man auch mit der positiven Psychologie, welche sich mehr mit den Ressourcen beschäftigt als mit den Defiziten», wägt auch der Zürcher Psychologe Ben Kneubühler ab. So darf man sich nach einer Trennung natürlich mit Affären ablenken, um sich besser zu fühlen. Das kann Teil des Trauerprozesses sein.
Einfach den Glücks-Waschgang einlegen, bitte
Toxisch wird das manische Alles-gut-finden aber dann, wenn uns dadurch emotionale Abkürzungen gelingen. Wenn wir uns beim kleinsten Anzeichen schlechter Laune und Trauer selbst zwanghaft gute Stimmung verordnen. Alles, was triggert, wird verbannt. Genau das beschreibt das Phänomen Toxic Positivity. Wie immer ist es also alles eine Frage des Masses, weiss Kneubühler.
No Bad Vibes hat gegen die Natur eh keine Chance: «Evolutionsbedingt können wir Menschen uns nicht selbst so programmieren, uns nur glücklich zu fühlen», so der amerikanische Autor und Psychologe Konstantin Lukin. Negative Emotionen haben also durchaus ihren Sinn. Die einfach durch ein absurdes Happy-Mantra hinfortzuspülen, ist nicht ganz ungefährlich.
Gefühle liefern Infos – und wer will schon Fake News?
Psychologe Ben Kneubühler weiss um die brillante Kompetenz von Emotionen: «Es ist nicht immer alles schön und es wird auch nicht besser, wenn wir es uns schönreden. Zum Menschsein gehört eine ganze Palette an Emotionen. Der Ärger, der uns auf ein Unrecht hinweist. Die Traurigkeit, die uns hilft, loszulassen und andere darüber informiert, dass wir Trost brauchen. Die Angst, die uns vor Gefahren schützt. Emotionen sind nicht gut oder schlecht, sondern sie helfen uns, unterschiedliche Situationen zu meistern und weiterzukommen. Sie alle haben ihre Funktion und Berechtigung.»
Toxic Positivity wertet also Emotionen falsch. Verlieren wir einen Menschen, empfinden wir Trauer. Das ist absolut nicht angenehm, aber notwendig. Wir brauchen Zeit, Veränderungen im Leben zu verarbeiten. Wer sich die nicht nimmt und sich stattdessen zwanghaft dem Optimismus an den trügerischen Hals wirft, der läuft Gefahr, die Trauer jahrelang unbewusst und unverarbeitet mit sich herumzuschleppen. Im Laufe des Lebens kann sich da so einiges anhäufen.
Künstlich herbeigeführtes Glück ist schlichtweg keins
Wer gerade jetzt in Zeiten des Virus von der Arbeit freigestellt ist, wird oft beneidet: «Mensch! All die bezahlte Freizeit, du Glückliche*r! Ist doch geil!», hört man die Freunde vielleicht ins Telefon miauen, nachdem man sich durch den pastellfarbenen «Just be happy!»-Feed gescrollt hat. Wenn ich das nicht geil finde, mich langweile, unglücklich bin, bin ich vermutlich selbst schuld. Freude zu empfinden, ist schliesslich eine ganz einfache Entscheidung. Könnte man meinen. Knopf drücken, Konfetti rieseln spüren. Das ist natürlich kompletter Unsinn. Wenn wir uns schlecht fühlen, es aber einfach nicht hinkriegen, uns in einen seligen Smiley zu morphen, fühlen wir uns erst recht schlecht. Wer sich dann noch mit all den aufpolierten Facetune-Gesichern in den sozialen Medien vergleicht, droht schnell in eine Spirale zu geraten. Alle sind so happy. Warum ich nicht?
Zusammen (mit ein paar Bad Vibes) ist man weniger allein
Die, bei denen immer alles über alle Massen gut läuft, findet man meistens nervig. Das sind die mit dem schönen Boyfriend, mit der florierenden Selbstständigkeit und den langen Beinen. Dabei kann man genau in diesen Fällen davon ausgehen, dass da einiges im Argen liegt. «Schenken Menschen negativen Gefühlen keine Aufmerksamkeit und erwecken so den Anschein, schlicht keine zu haben, macht sie das weniger zugänglich und zuordenbar. [...] Man empfindet solche Leute als anstrengend und unerreichbar – wie wäre es, eine bedeutungsvolle Beziehung zu jemandem aufzubauen, der Trauer und Angst ignoriert?», so Konstantin Lukin. Ja, durchaus unangenehm vermutlich. Man meidet sie folglich lieber.
Andere wiederum, die sich Bad Vibes mit Gewalt verbieten, ziehen sich zurück. Soll ja keiner merken, dass man schlecht drauf ist. Doch, doch, das sollen die ruhig. Dafür sind Freunde und Familie da. Das weiss auch Ben Kneubühler. Dem nämlich überlassen wir jetzt zusammen mit der US-Therapeutin Whitney Goodman, die auf Instagram aufzeigt, wie man während des Lockdowns mit Toxic Positivity umgeht, das letzte Wort: «Schlussendlich, ganz abgesehen von den Gefahren von Schmerz und Trauer, wäre das Leben doch auch einfach unglaublich eintönig, wenn wir nur Freude, Stolz und Zuversicht spüren würden.» True.