Frust, Trübsal bis hin zur Depression: Die Corona-Pandemie und der Lockdown machen vielen psychisch zu schaffen. Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur Normalität besteht kaum. Den meisten fällt es deshalb schwer, optimistisch zu bleiben. Genau das sei jetzt aber enorm wichtig, weiß Holger Kuntze, Autor von «Das Leben ist einfach, wenn du verstehst, warum es so schwierig ist» (Kösel Verlag). Im Interview verrät der Psychotherapeut, auf was wir jetzt hoffen können, wie wir unseren Optimismus beibehalten, aber auch, mit welchen psychosomatischen Folgen er dieses Jahr noch rechnet.
Durch die Pandemie steht die Psyche vieler Menschen nach wie vor unter einer hohen Belastung. Wie schaffen wir es jetzt, weiter positiv zu bleiben?
Holger Kuntze: Die Pandemie und der Lockdown wirken wie eine Art psychologische Wasserscheide. Für viele Menschen verstärkt sich ihr Leid und ihre Krise, für andere sind durch den Lockdown die Bedingungen ihrer spezifischen Krise verschwunden (wie z.B. Überlastung, Reisetätigkeiten, Vergnügungszwang, sozialer Druck) und sie erleben den Lockdown geradezu als Erholung und als persönliche Bereicherung.
Meine Beobachtung in meiner Praxis sagt mir aber, dass diejenigen, deren Krise und Leid sich in der Pandemie und im Lockdown verstärkt, die Mehrheit bilden. Den Menschen geht es aktuell nicht gut, weil sich die Bedingungen ihres Lebens oft radikal verändert haben. Darin liegt aber auch eine Riesenchance: Wir erleben plötzlich zu welch inneren und äusseren Flexibilitäten wir in der Lage sind. Das sollten wir auch in Post-Lockdown-Zeiten nie vergessen: Wir sind viel flexiblere und variablere Wesen als wir immer glaubten.
Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur Normalität ist derzeit noch klein. Was kann uns in dieser schwierigen Zeit ein positives Gefühl geben?
Wir sollten uns auf zweierlei konzentrieren: Erstens, wie eben schon erwähnt, auf unser Bewusstsein, zu welch äusseren und inneren Flexibilität wir in den vergangenen Monaten fähig waren. Das Leben ist ganz anders geworden und gleichzeitig haben wir uns zu einem grossen Teil darauf eingestellt, auch wenn wir immer wieder zweifeln oder erschöpft sind. Und zweitens auf die Neugier auf das Zukünftige. Wie wird es sein? Was wird wieder, wie es war? Was wird anders? Was wird neu? So fokussieren wir uns auf unsere eigenen Fähigkeiten und bleiben offen für das, was kommt.
Viele plagt die Angst, mit dieser Krisensituation nicht mehr umgehen zu können. Was kann uns wieder zu mehr Selbstvertrauen verhelfen?
Der Mensch sehnt sich nach der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Verbundenheit. Selbstwirksamkeit bedient unser Bedürfnis nach Freiheit und Veränderung, Verbundenheit unser Bedürfnis nach Ankunft und Sicherheit. Wir sollten also immer darauf achten, beide Erfahrungen in unseren Alltag zu integrieren, zum Beispiel indem wir einerseits etwas Neues tun oder Projekte zu Ende führen und andererseits mit den Menschen, die uns wichtig sind, in Kontakt bleiben oder geliebte Rituale beibehalten oder intensivieren.
Durch den Lagerkoller sind die Gedanken an die Krise aber noch präsenter. Haben Sie Tipps für Ablenkung?
Initiieren Sie täglich sinnvolle Handlungen, die innerhalb der aktuellen Regeln möglich sind. Sinnvolle Handlungen können sein, dass ich weiss, dass es jetzt gut ist, sich mit Freunden zu treffen und Gespräche zu führen. Einen Spaziergang zu machen. Einkaufen zu gehen, ein Telefonat zu führen, Sport zu machen.
Zentral sollte für jeden Menschen folgender Gedanke sein: Wir können auch sinnvolle Handlungen initiieren, obwohl wir müde, lustlos oder traurig sind. Ich kann ruhig, sinnvoll und zielgerichtet agieren, obwohl ich innerlich unruhig, zweifelnd und unsicher bin. Unser Verstand schlägt uns permanent neue negative Gedanken, Ängste oder Sorgen vor, weil unser Verstand genau das am besten kann. Wir sollten dem Verstand dafür danken, aber ihn auch beruhigen und nicht immer darauf hören, was unser Verstand vorschlägt.
Was kann man tun, wenn man ausgebrannt und zu erschöpft im Alltag ist?
Das Leben ist auch ohne eine Pandemie eine komplizierte Angelegenheit und daran ist nichts falsch. Wenn wir akzeptieren, dass das Leben anstrengend ist, werden wir es in höherer Leichtigkeit leben können. Wenn wir jedoch davon ausgehen oder erwarten, dass das Leben an sich leicht und widerstandslos zu leben ist, wird uns jede Anstrengung, jeder Umweg, jede Herausforderung umso schwerer fallen. Ich kann trotz und mit meiner Erschöpfung den Alltag gestalten und gewinne innere Freiheit, wenn ich nicht auch noch gegen das Gefühl oder den Gedanken der Erschöpfung kämpfe.
Wie erkennt man, dass es seinen Mitmenschen psychisch nicht gut geht?
Der Mensch hat ja evolutionär nur drei Reaktionsmuster, die er unter Belastung anwenden kann: Kampf, Flucht oder Erstarren. Wir erkennen psychische Belastung deshalb sehr gut daran, wenn ein Mensch anhaltend von Ängsten oder Sorgen spricht oder aber schnell in Wut oder Traurigkeit fällt. Rückzug oder Kontaktverweigerung sind aber eben auch ein Anzeichen dafür, dass es einem Menschen nicht gut geht. Unser Gehirn ist in der Pandemie ungewöhnlich lange in einer Art Alarmzustand, da eine Unsicherheit darüber besteht, wie es weitergeht. Das sorgt für Stresshormone, die uns dann über Monate begleiten, auch wenn es mal einen schönen Tag oder eine lustige Begebenheit gibt. Das dürfen wir nie vergessen und müssen entsprechend sensibel mit uns und den Menschen in unserem sozialen Umfeld sein.
Wie kann man als Angehöriger helfen?
Indem wir diesen Menschen Raum und Zeit schenken, zuhören und Gespräche anbieten. Ganz wichtig ist dabei, dass wir die Ängste und Sorgen des anderen zulassen und akzeptieren, dass der andere sich diese Sorgen macht. Egal ob sie realistisch sind oder nicht. Erst in einem zweiten Schritt sollten wir Lösungen oder Hilfe anbieten. Nur dadurch, dass wir zuerst und intensiv zuhören und den Ängsten und Sorgen Raum geben, können Menschen später Hilfe annehmen oder Lösungen und Veränderungen initiieren. Meist bieten wir im Gespräch zu schnell Lösungen an, ohne vorher den Raum für die Ängste und Sorgen zu geben und erleben dann Trotz oder Abwehr bei denen, denen wir doch eigentlich helfen wollen.
Welche Auswirkungen hat die Isolation für Kinder?
Für Kinder und Jugendliche ist ein Jahr unendlich lang. Es gibt jeden Tag, jede Woche wichtige neue Eindrücke, Entwicklungen, Erfahrungen. Durch die Pandemie scheint die Zeit für Kinder und Jugendliche wie eingefroren im falschen Film. Die wichtigen Impulse fehlen, das Miteinander unter Freunden ist eingeschränkt. Kinder und Jugendliche benötigen aktuell all unsere Aufmerksamkeit, damit es ihnen trotz der Ausnahmesituation bestmöglich geht.
Mit welchen psychosomatischen Folgen rechnen Sie noch im Laufe dieses Jahres?
Wir wissen, dass wir für dieses Leben im 21. Jahrhundert eigentlich nicht gemacht sind. Unser Gehirn und unser Körper ist eher für das Leben in der Steinzeit konstruiert. Alle unsere inneren Programmierungen - physiologisch, neurologisch und psychologisch - sind überfordert mit dem, wie wir leben. Und dennoch versuchen wir klarzukommen mit all dem, was Zivilisation, Gesellschaft, Technik, Medizin und IT an neuen Lebenswirklichkeiten schaffen, ob mit oder ohne Pandemie.
Entsprechend wird sich das Krisenerleben der meisten Menschen in den kommenden Monaten weiter verstärken, solange wir keine äusseren Veränderungen erleben. Gleichzeitig lassen uns persönliche oder gesellschaftliche Krisen immer Antworten finden. So ist der Mensch. Krisen zwingen uns loszulassen. Krisen führen uns ins Wachstum. Nutzen wir Krisen richtig, machen sie uns selbstbewusster und resilienter. Als grundoptimistischer Therapeut glaube ich an dieses innere Wachstum und an unsere psychologische Flexibilität, gute Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu finden, individuell und gesellschaftlich.