Ein Schirm würde nicht zu ihr passen, zu buchhalterisch. Aber die Stimmung vor den Fenstern des Hotels Krafft, unserer Shooting-Location – die passt. Graues Basel, Nieselregen, dunkles Timbre: Passt zu ihren Rollen. Aber nur weil das Wetter gerade so richtig bescheiden und die Rollenwahl der Schauspielerin düster ist, lässt es sich Sarah Spale nicht nehmen, zu strahlen. Die ausgebildete Primarlehrerin nimmt das Shooting und unser Interview ernst – und das Ernste mit Humor. Jede hochgezogene Augenbraue sitzt. Wir sprechen über «Platzspitzbaby» (ab 16. Januar im Kino). In dem Film verkörpert sie Sandrine. Heroinabhängig. Mutter. Inspiriert ist die Geschichte von Michelle Halbheers Kindheit und ihrem gleichnamigen Buch. Wir reden über «Wilder». In der SRF-Serie (zweite Staffel ab 7. Januar) spielt sie Rosa. Kommissarin. Drei Morde gilt es aufzuklären. Und wir versuchen zu begreifen, wie die 39-jährige Baslerin nach all diesen Engagements und allem, was in dieser Welt gerade passiert, ihre Zuversicht bewahrt. Eine Unterhaltung über den Glauben an die Menschheit und an sich selbst.
Style: Mir graut es ja immer davor, meine eigene Stimme zu hören, wenn ich Interviews ab Band verschriftliche. Wie ist es, sich selbst auf der Leinwand zu sehen? Gut zu ertragen?
Sarah Spale: Ich finde es wirklich extrem spannend, am Schluss zu sehen, wie sich alle Szenen zu einem Ganzen fügen. Ich versuche jedoch, mich dabei nicht zu beurteilen und zu bewerten. Sonst verfällt man in eine «Oh nein, oh nein ... Oh nein»-Gedankenspirale, und das ist kontraproduktiv.
Klappt das?
Nicht immer gleich gut. Bei «Wilder» eher. Da spreche ich Berndeutsch, meine Stimme ist tiefer – weiter weg von mir. Bei «Platzspitzbaby» spreche ich wieder Baseldeutsch, und da fällt es mir schwerer diese Distanz zu wahren, loszulassen und zu sagen, das bin eigentlich nicht ich.
Geht diese Einstellung denn nicht auf Kosten des Lerneffekts?
Ich trete nicht aus dieser Perspektive, das heisst nicht von aussen, an meine Rollen heran. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass ich mich während des Spiels viel zu stark auf meine Aussenwirkung konzentriere, mir ständig überlege: «Ah, wie sieht das wohl für den Zuschauer aus, wenn ich eine Augenbraue hochziehe?» Und so weiter. Das ist nicht meine Herangehensweise.
Was ist Ihre Herangehensweise?
Unterschiedlich. Für «Platzspitzbaby» habe ich mit einem Coach gearbeitet und viele Übungen gemacht – zum Beispiel durch den Bahnhof laufen, mir vorstellen, bedroht zu werden, Angst zu haben. Oder mal einfach alles um mich herum scheisse finden. Dadurch baute ich einen Stress auf im Körper, den ich abspeicherte und vor der Kamera versuchte abzurufen. Und ich habe viele Fragen gestellt. Mit einem Arzt gesprochen ...
Sie spielen eine Frau, die der Mutter von Michelle Halbheer nachempfunden ist. Hatten Sie auch Fragen an die Tochter?
Nein. Ich fokussierte auf die Mutter des Mädchens. Wenn ich mich zu stark mit Michelles Sicht auseinandergesetzt hätte und damit von der Seite des Kindes an die Rolle herangegangen wäre, wäre ich ständig im Clinch mit mir selbst gewesen. Ich habe den Kontakt zu ihr zwar nicht bewusst gemieden, aber auch nicht aktiv gesucht.
Wie haben Sie sich weiter der Rolle einer Heroinabhängigen angenähert?
Ich habe viel recherchiert, Gespräche mit ehemaligen Drogenabhängigen geführt und all meine Fragen mit einem Arzt, der sich in der Drogenszene sehr gut auskennt, besprochen. Mit ihm durfte ich auch meiner natürlichen Scheu vor Nadeln entgegentreten. Ich hatte das Gefühl, dass man diese Scheu durch alle Poren spürt. Also habe ich mir unter seiner Aufsicht eine Nadel gesetzt, um diese Grenze zu überschreiten. Die Geschichte handelt aber vor allem vom Zerfall eines Menschen durch den Drogenkonsum. Im Zentrum steht die Unfähigkeit, etwas dagegen zu unternehmen, nicht die Drogenerfahrungen als solche.
Haben sich die Vorbereitungen denn gelohnt?
Hmmm (zögert). Es war eine tolle und sehr spannende Arbeit. Ob ich meinem Anspruch gerecht werde, kann ich im Moment nicht beantworten, der ganze Prozess ist mir noch zu nah. Ich hoffe, dass der Film eine Auseinandersetzung anregen kann. Wenn das passiert, dann hat es sich gelohnt.
Welche Auseinandersetzung erhoffen Sie sich?
Nicht einfach schwarz-weiss zu malen, nicht zu sagen: Das ist gut, das ist schlecht. Sondern die Menschlichkeit hinter einer solchen Sucht zu erkennen, die jemanden scheitern lässt. Zu erkennen, dass die meisten ihr Bestmögliches versuchen, aber dass wir nun mal in einer Gesellschaft leben, die uns das nicht immer einfach macht. Die Ansprüche sind so hoch. Meine Figur in dem Film – so hässlich und gemein und abstossend sie auch ist –, ich hatte sie in jedem Moment gern und konnte nachvollziehen, warum sie ist, wie sie ist. Obwohl ich selbst Mutter bin. Ich finde es wichtig, dass man die Figur auch als Zuschauer an sich ranlässt und sie nicht von Anfang an als Monster verurteilt.
In Interviews wirken Sie positiv, mit einem unbeugsamen Grundvertrauen ausgestattet. Woher kommt das?
Das ist schön, wenn das so rüberkommt. Aber ich knorze natürlich sehr mit mir und bin – glaube ich – mit mir selbst am strengsten. Ich freue mich schon sehr fest über das Leben und das Aufstehen am Morgen. Aber ich bin ein Haderer, ein Zweifler. Hinterfrage mich oft – viel- leicht manchmal zu oft.
Womit hadern Sie?
Manchmal mit der Erziehung, dem Umgang mit meinen beiden Söhnen. Beruflich auch. Immer. Ich habe zum Beispiel keine Schauspielausbildung, und ich frage mich daher immer wieder: «Kann ich dem Massstab meiner Schauspielkollegen und -kolleginnen, die mit einer Ausbildung auffahren können, standhalten? Bin ich dem gewachsen?»
Womit hadern Sie nicht? Wobei können Sie sagen: «Das kann ich wahnsinnig gut»?
(Lacht.)
Muss man doch auch mal sagen ...
Finde ich tough, das zu sagen. Aber ich entspanne mich immer mehr. Es gibt häufiger solche Momentaufnahmen, in denen ich meine Zweifel bewusst wahrnehme und sagen kann: «Sarah, faktisch gesehen, klappt das. Keine Sorge.»
Hätte ein Mann jetzt ohne zu zögern mehrere Dinge aufgezählt, in denen er unschlagbar ist?
So zack, zack, zack? Vielleicht. Natürlich erlebe ich es auch oft bei Männern, dass sie an sich zweifeln. Dieses Understatement tragen viele Schweizer ganz stark in sich drin. Man erwischt sich so schnell dabei, bei einem schönen Kleid, das alle Kurven perfekt betont, zu denken: «Vielleicht ist das doch too much.» Wenn ich jemanden erlebe, der ohne zu bluffen hinstehen und sagen kann: «Das habe ich gut gemacht», gefällt mir das.
Sagen wir es so: In «Wilder» liefern Sie sehr gut ab. Ohne Aber.
Danke.
Wie auch der Film «Platzspitzbaby» ist «Wilder» eine eher düstere Produktion. Reizt Sie das bei der Rollenwahl?
Ich habe ja auch eine lustige Ader, habe schon Clownerie in einem Freilichttheater gemacht. Aber an den Rollen interessiert mich natürlich schon, wenn Figuren Abgründe haben – solche, die ambivalent sind, doppelbödig. Es ist spannend, zu ergründen, was dahintersteckt, warum sie scheitern. Und es reizt mich, jemanden zu verkörpern, dessen Menschlichkeit so sichtbar – oder zumindest spürbar ist.
Wie schaffen Sie es, diese Rollen hinterher wieder loszuwerden?
Da helfen natürlich meine Kinder extrem. Die wollen Sarah. Die brauchen Sarah. Bei Sandrine im Film «Platzspitzbaby» hatte ich oft Rückenschmerzen oder Bibeli – vom Rauchen und dem permanenten Stress am Set. Solche physischen Dinge habe ich heimgenommen. Oder in Gedanken beim Joggen zum Beispiel begleiten einen die Figuren schon auch. Im besten Fall lernt man jedoch voneinander. Eine Figur soll von mir etwas mitbekommen, und ich von ihr. Hoffentlich vor allem das Positive. An Sandrine gefällt mir beispielsweise sehr, wie direkt sie ist. Es ist nicht so, dass ich das einfach so übernommen habe und plötzlich viel direkter sein kann, aber ich habe mich gefreut, diese Seite mit ihr zusammen auszuleben ...
Nach den Dreharbeiten sind Sie mit Ihrer Familie in die Ferien gereist, das habe auch geholfen, abzuschalten. Aber: Dürfen Sie das von Ihren Kindern aus überhaupt noch? Die Jugend bestreikt den Flugverkehr ja mittlerweile vehement.
Wir sind mit dem Auto von hier nach Spanien gefahren. Von dem Greta-Effekt merken wir noch nichts. Aber der bewusste Umgang mit der Natur war uns schon immer wichtig. Wir sind viel draussen, versuchen, unseren Kindern eine gewisse Wertschätzung diesbezüglich mitzugeben und auch das Bewusstsein, dass die Welt über die Schweizer Grenzen hinausgeht. Es ist uns wichtig, dass unsere Kinder mit verschiedenen Kulturen in Kontakt kommen. Unser Manny beispielsweise ist Brasilianer.
Und was würden Sie sagen, wenn Ihr Ältester anfinge, am Freitag die Schule zu schwänzen, um fürs Klima zu demonstrieren?
Ich finde es super, was junge Leute gerade machen. Die setzen sich ein. Weil sie ja auch müssen. Wir Erwachsenen haben so lange nichts gemacht – und machen teilweise noch immer einfach nichts. Es ist grossartig, dass unsere Kinder Wege gefunden haben, sich Gehör zu verschaffen. Wenn sie dafür die Schule schwänzen, unterstütze ich das.
Wofür setzen Sie sich ein?
Ich funktioniere sehr direkt, von Tür zu Tür. Wenn jemand Hilfe braucht, bin ich sehr schnell parat. Wir wohnen schon das zweite Mal mit einem jungen Flüchtling zusammen. Auf diese Art und Weise kann ich direkt etwas von mir geben. Das ist mir auch wichtig, das liegt mir am Herzen. Ich engagiere mich ganz konkret da, wo man schaufeln helfen kann. Aber wie andere meinen Wirkungskreis über Social Media zu vergrössern, liegt mir irgendwie fern. Auch Facebook hatte ich noch niemals und habe es nie vermisst.
Beruflich wären die sozialen Medien aber gute Verkaufsplattformen ...
Das kann ich wirklich ganz schlecht, mich verkaufen.
Haben Sie bestimmte Vorbilder?
Ich kann keine Namen nennen. Aber generell bewundere ich Menschen, die Dinge anders machen als konventionell erwartet. Das finde ich stark. Leute, die Grenzen überschreiten, Leute, die sich entscheiden, auszuwandern, sich anders kleiden – das zu sehen, freut mich. Klar, damit verändert man nicht die Welt, aber es ist inspirierend.
Ist Ihre Mutter ein Mensch, an dem Sie sich orientieren?
Meine Mutter hat mich und meine beiden Geschwister immer in dem, was wir wollten, unterstützt. So unterschiedlich unsere Wege waren – mein Bruder ist Goldschmied, meine Schwester arbeitet gerade an ihrer Promotion –, wir hatten stets eine tolle Rückendeckung. Das gibt Kraft.
Sind Sie mit einem klassischen Erziehungsmodell aufgewachsen?
Wir hatten Kindermädchen und damit mehr Bezugspersonen, was ich als bereichernd empfand. Es hat mir nie an etwas gefehlt. Und auch jetzt leben wir dieses Modell, obwohl es nicht immer einfach ist, den Spagat zwischen Arbeit und Kindern zu schaffen. Für beide Parteien nicht, weder für den Mann noch für die Frau. Aber ich würde mir wünschen, dass es normaler und akzeptierter wird. Man eckt immer wieder an, muss sich immer wieder erklären und rechtfertigen, bekommt immer wieder ein schlechtes Gewissen. Man ist eigentlich permanent im Clinch und versucht dauernd, allem gerecht zu werden.
Was kommt denn nun nach Rosa und Sandrine?
Im Januar drehen wir die dritte Staffel «Wilder». Aber ansonsten habe ich noch keine Pläne, ich weiss noch nicht, was danach kommen soll. Ich denke in kleinen Horizöntchen.
Ein weiteres Horizöntchen: Bald werden Sie vierzig.
Erst Ende nächstes Jahr!
Schwieriges Thema?
Nein. Es geht halt so schnell. Wenn ich jetzt, so mit 39 Jahren, die Zeit einfrieren könnte – das wäre super. Es dürfte nämlich alles etwas langsamer gehen. Mit 40 habe ich keine Mühe – aber wenn ich dann ebenso schnell 50 und dann 60 werde ... Ich geniesse es jetzt schon, zu sagen, dass ich noch eine frischgebackene 39-Jährige bin.
Wäre die 20-jährige Sarah mit der fast 40-jährigen zufrieden?
Viel lieber würde die 39-Jährige mit der 20-Jährigen sprechen.
Und dann?
Dann würde sie sagen: «Geniess das Jetzt etwas mehr. Alles nämlich gut, so wie du bist. Bereuen wirst du nichts.»